Fachkräftemangel – Mythos oder Mega-Problem?

Zu wenig junge Talente, zu wenig erfahrene Spezialisten: Das ist angeblich eine der größten Herausforderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Aber stimmt das überhaupt?

Für uns ist der Fachkräftemangel ein großes Problem

Brigitte Döcker

Vorstandsmitglied, AWO Bundesverband

Brigitte Döcker
  • Der Identifikationsgrad mit dem Pflegeberuf ist außerordentlich hoch
  • Die Gesellschaft misst dem Pflegeberuf eine große Bedeutung bei
  • Wir werben aktiv um Bewerber, vor allem um männliche Mitarbeiter

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Es ist wirklich bizarr: Der Bedarf an Altenpflege wächst stetig. Es ist also eine Branche mit besten Job-Aussichten und eine Branche mit hohen Zuwächsen an Beschäftigten. Und trotzdem herrscht in einigen Regionen akuter Fachkräftemangel. Ein anerkannter Indikator für Fachkräftemangel ist die Dauer einer Stellenbesetzung über 100 Tage. Dieses trifft in ganz Deutschland zu. In manchen Gegenden – ländlichen oder dünn besiedelten Regionen in Ostdeutschland – liegt dieser Wert sogar noch viel höher.

Die Folgen sind schon heute sehr konkret: In manchen Pflegeheimen müssen wir schon Wohnbereiche zusammenlegen, weil Personal fehlt, oder können bei deutlicher Nachfrage Menschen nicht mehr aufnehmen, weil wir ihre Pflege wegen des Mangels an Pflegekräften nicht übernehmen können. Hinzu kommt, dass uns auch beim vorhandenen Personal die Männer fehlen: In der ambulanten Pflege sind bei der AWO 90 Prozent, in der stationären 86 Prozent der Beschäftigten weiblich. Nun ist Pflege aber etwas sehr Intimes: Und natürlich gibt es Männer, die sich lieber von einem Mann waschen lassen würden, als von einer Frau. Auf solche Wünsche können wir aber derzeit nicht genügend eingehen, da die Männer nicht ausreichend präsent sind in der Pflege.

Was sind die Gründe für den Fachkräftemangel?

Das Gehalt ist nicht der einzige Faktor. Denn man kann nicht pauschal sagen, dass in der Pflege schlecht bezahlt wird: Es gibt eine Vielzahl an Tarifverträgen. Natürlich müssen wir aber trotzdem beim Lohn ansetzen, wenn wir die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber steigern wollen. Wir fordern daher einen bundesweiten Tarifvertrag für soziale Berufe – beginnend bei der Pflege. Der Preis und damit der Wettbewerb in unserer Branche werden über Personalkosten gemacht, und wir möchten ein Ende des Lohndumpings. Darüber hinaus muss für die zu leistende Arbeit auch genügend Zeit da sein. Pflege ist eine sehr persönliche Aufgabe, die auch den Sterbeprozess einschließt. Es darf nicht sein, dass jemand, der einen anderen Menschen in seiner letzten Lebensphase begleitet, dabei unter Zeitdruck und Stress steht. Es muss von daher anerkannt werden, dass Sterbebegleitung in Pflegeeinrichtungen sich von der alltäglichen Arbeit unterscheidet und besser vergütet wird. Dafür ist diese Arbeit zu wertvoll und bedeutsam für jeden einzelnen Menschen.

Wie gehen wir konkret mit der Situation um? Neben unserer Forderung nach außen, die die Branche in monetärer Hinsicht und von den Arbeitsbedingungen her hoffentlich attraktiver macht, investieren wir in unsere vorhandenen Mitarbeiter. Wir achten auf Teambildung und Stärkung der Mitarbeiter über Weiterbildung. Die Qualifizierung und Professionalisierung des Leitungspersonals für Führungsaufgaben, die Personalentwicklung und die Personalbindung bilden dabei eine sehr wichtige Säule. Zudem arbeiten wir am Image: Leider findet unsere Branche in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem dann statt, wenn etwas schiefgelaufen ist. Um es deutlich zu sagen: Missstände dürfen nicht passieren, und wir gehen jedem Fall nach. Leider ist es aber so, dass vor allem dann über die Altenhilfe berichtet wird, wenn es einen Skandal gibt. Das ist schade, denn die wertvolle Arbeit unserer vielen Pflegekräfte wird so in ein falsches Licht gerückt.

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Brigitte Döcker
© AWO Bundesverband e. V.
Brigitte Döcker

Vorstandsmitglied, AWO Bundesverband

Brigitte Döcker (Jg. 1956) ist Diplom-Erziehungswissenschaftlerin und seit Mai 2010 Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbands. Von 1987 bis 2003 war sie Referentin beim AWO Landesverband Berlin e. V. und anschließend Referentin für Qualitätsmanagement bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) in Berlin.

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