Nature Writing: Zeile für Zeile die Welt bewandern
Die wachsende „Indoor“-Generation verbringt im Vergleich zu früheren Generationen den größten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen und vor Bildschirmen.
Im Lift geht es aus der Wohnung in die Tiefgarage und dann ins Büro, wo das Arbeitsleben in Büro- und Konferenzräumen stattfindet. Viele von ihnen verlieren die Bodenhaftung, weil sie die wirkliche Welt nicht mehr sinnlich erleben. Landschaft ist für sie nichts weiter als ein hübscher Hintergrund. Dabei ist die sinnliche Wahrnehmung, so der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, unabdingbar für das Verständnis der Welt. Das Wandern erinnert uns daran, wie nachhaltig wir in der Landschaft verwurzelt sind, sagt der Schriftsteller und Literaturprofessor in Cambridge, Robert Macfarlane, der in Großbritannien als einer der bedeutendsten Vertreter des „Nature Writing“ gilt und in seinen Publikationen historische, kulturelle und naturgeschichtliche Bezüge herstellt. Für sein Buch „Alte Wege“ legte er zwischen 1600 und 1900 Kilometer zurück. Wege entstehen für ihn darin, Orte und Menschen zu verbinden – so lange sie benutzt werden. Auf alten Wegen wird für ihn die Vergangenheit greifbar. Es gibt aber auch Holzwege, die der Pholosoph Martin Heidegger 1949 so beschrieb:
„Holz lautet ein alter Name für Wald.
Im Holz sind Wege, die meist verwachsen
Jäh im Unbegangenen aufhören.
Sie heißen Holzwege.
Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald.
Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen.
Doch es scheint nur so.“
Holzwege im Sinne Heideggers sind ein im Dickicht endender Pfad, wo Spaziergänger enttäuscht umkehren und nur Waldarbeiter etwas zu tun haben. Auch das gehört zum Wandern: das Unerwartete, eine unkontrollierbare Wendung, die von einer Überraschung lebt. Auch wenn die „Indoor“-Generation wächst, so gibt es immer noch genug Menschen, die sich „draußen zuhause“ fühlen. Das zeigt sich auch in den steigenden Mitgliederzahlen des Alpenvereins und anderer Sportverbände, die dazu beitragen, dass sich Menschen im unüberschaubaren Zeitalter der Ökonomisierung und Digitalisierung aufgehoben fühlen. Indem sie gemeinsam wandern, erleben sie die Umwelt mit allen Sinnen und fühlen sich nicht nur als Mitglied einer bestimmten Gruppe, sondern auch als Mitglied der Natur.
So verwundert es auch nicht, dass die Rückbesinnung auf eine „heile Welt“ in unserer Leistungsgesellschaft inzwischen zu einem Massenphänomen geworden ist, von dem vor allem die Outdoorbranche profitiert. Sie steht für das Image einer intakten Natur und stellt neben Produkten auch Sinnangebote zur Verfügung, die diese Sehnsucht stillen. Dass Outdoor heute boomt, hat sicher auch damit zu tun, dass Menschen „draußen“ das Gefühl haben, wieder Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu bekommen. Wer das kann, empfindet auch weniger Stress und ist gesünder.
In der Natur lernen alle, die Zeitnot als das größte Übel empfinden und permanent unter Druck stehen, dass sie auch Muße brauchen. Ursprünglich meint sie die Zeit, in der sich Menschen konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnten. Der Begriff wird heute vielfach durch populäre Metaphern ersetzt, die der Sprache der Technik entlehnt sind. Dazu gehören „Abschalten“ oder „Herunterfahren“. Einer Gesellschaft, die sich eine solche Muße glaubt nicht mehr leisten zu können, „wird aber die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch fehlen“, bestätigt der Philosoph Konrad Paul Liessmann.
Auch Literatur braucht Bodenhaftung
1814 erschien „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“. Die berühmte Geld- und Schattennovelle gehört zu den eigentümlichsten, gewiss zu den rätselhaftesten Hervorbringungen der deutschen Romantik und wurde von Adelbert von Chamisso (1781-1838) geschrieben. Er wurde wenige Jahre vor der Französischen Revolution auf dem Stammschloß Boncourt in der Champagne geboren. Dass er eine biographisch bedingte Affinität zum unbehausten Wanderer Peter Schlemihl hatte, versteht sich von selbst, wenn man bedenkt, dass der französische Adelsemigrant im Alter von elf Jahren heimatlos wurde. Ständig bewegte sich der Naturforscher und Dichter zwischen der Grenze zu einer anderen Sprache bzw. Kultur - er sah das Fremde mit dem Blick für's Eigene an und umgekehrt. Wo er auch ging, stieß er sich an der Welt und zeigte dadurch, wie sie ist. Chamisso war ein Tatmensch. Er musste in ständiger körperlicher und geistiger Bewegung sein. "Laufen", schrieb sein väterlicher Freund Julius Eduard Hitzig, "im strengsten Sinne des Worts, denn was er gehen nannte, war so, daß kein anderer ehrlicher Mensch mitkommen konnte".
Chamissos 1814 in Nürnberg erstmals gedruckter Geschichte war bei ihrer Veröffentlichung ein sensationeller Erfolg beschieden. Mühsam rang ihr Autor mit der Sprache, wenn ihn Worte und Bilder von der "Seite der linken Pfote" bewegten. Die Zeit, Kunstwerke zu schaffen, musste erst ausgesäet werden, auf dass sie reife, so seine Grundanschauung. Denn alles bleibt ohne Farbe und Bedeutung, wenn es nicht aus dem Leben begründbar und in ihm verhaftet ist. Auf seinen Wanderungen ist Peter Schlemihl auch bei den Philosophen "durch die Schule gelaufen", doch erkannte er bald, dass er zur philosophischen Spekulation keineswegs berufen ist. Seither hat er "vieles auf sich beruhen lassen, vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet" und ist, seinem geraden Sinn vertrauend, seiner inneren Stimme gefolgt. Er eilte vom "Äquator nach dem Pole, von der einen Welt nach der andern; Erfahrungen mit Erfahrungen vergleichend." Das heißt: Die Wirklichkeit ist allein durch Denken nicht zu fassen: "Am Anfang war die Tat." Dieses Goethe-Zitat war für Chamisso wie ein Glaubenssatz.
Drei Jahre vor der Niederschrift seines Peter Schlemihl hat Chamisso einem Freund nach Frankreich geschrieben, dass der Teufel das bisschen Philosophie holen soll, wenn sie nicht unmittelbar ins Leben übergeht. "Wie mir die Nase gewachsen ist (und ich hoffe, das ist noch leidlich grad), folge ich ihr - frage nicht wie und warum". Anschaulicher kann Chamissos wunderliches Wesen, das ihn freilich nicht für jedermann willkommen machte, nicht umschreiben. Auch nach über zweihundert Jahren hat seine Weltanschauung ihre Gültigkeit nicht verloren: "Ich habe keine Philosophie anzubieten. Ich bin kein Philosoph oder philosophisch gebildeter Mensch. Ich habe dann und wann philosophische Texte gelesen - aber nicht systematisch, das heißt auch, ich kenne die Geschichte der Philosophie nicht. Aber ich habe eine ganz klare Lebenshaltung, ich habe meine Erfahrungen gemacht, und auf meinen Erfahrungen beruht im Großen und Ganzen mein Weltbild." Er war wie Robert Macfarlane bewandert, nicht erfahren. Sich mit beiden auf den Weg zu machen bedeutet, die Welt Zeile für Zeile besser zu verstehen.
Weiterführende Informationen:
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Nachwort von Dr. Alexandra Hildebrandt. Kyrene Literaturverlag, 2014.
„Auf alten Wegen wird die Vergangenheit greifbar“. Interview mit Robert Macfarlane von Gero Günther. In: Süddeutsche Zeitung Magazin (31.8.2018), S. 31-33.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Wohnen 21.0: Grundzüge des Seins von A bis Z: global – lokal –nachhaltig. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2018.