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Laufen als Therapie Lernen, mit der Depression zu leben

Thorsten Stelter war Anwalt, sehr ehrgeizig, immer unter Druck. Dann kam eine Angststörung, schließlich eine Depression. Im Interview erzählt er, wie er sich erholte - und welche Rolle Sport dabei spielte.
Von Frank Joung
Thorsten Stelter

Thorsten Stelter

Foto: Tim Grütters
Zur Person

Thorsten Stelter, Jahrgang 1977, litt selbst jahrelang unter einer Depression. Der ehemalige Rechtsanwalt bietet einen Lauftreff für Depressive  an und engagiert sich für das Düsseldorfer Bündnis gegen Depression.

SPIEGEL ONLINE: Herr Stelter, wann haben Sie gemerkt, dass Sie in eine Abwärtsspirale abrutschen?

Stelter: Das war ein Prozess. Ich war Anwalt in einer Kanzlei, wo ein ruppiger Ton herrschte. Ich fühlte mich stark unter Druck und hatte ständig Angst, etwas falsch zu machen. Dazu kam mein eigener hoher Anspruch und ungesunder Ehrgeiz. Irgendwann tauchten körperliche Signale auf: Herzrasen, Schlaflosigkeit, Magenprobleme. Nachts habe ich so stark geschwitzt, dass mein Bett morgens klitschnass war.

SPIEGEL ONLINE: Wie ging es dann weiter?

Stelter: Eines Morgens stand ich an einer Kreuzung, wo ich eigentlich zur Arbeit hätte abbiegen müssen. Aber es ging nicht. Ich war voller Angst und Panik. Ich bin geradeaus in den Wald auf einen Parkplatz gefahren und bin heulend zusammengebrochen. Ich weiß nicht, wie lange ich da saß, aber irgendwann rief ich meine Freundin an, die mich dann anwies, in die nahe gelegene psychiatrische Klinik zu fahren. Das habe ich getan.

SPIEGEL ONLINE: Was haben die Ärzte gesagt?

Stelter: Die Diagnose lautete Angststörung. Erst später habe ich auch die typischen Anzeichen für eine Depression gezeigt: Ich fühlte mich wertlos und war immer antriebslos und traurig. Zum Glück habe ich schnell eine Therapeutin gefunden, die mich behandelt hat. Die Antidepressiva haben mich erst stabilisiert. Doch ein halbes Jahr später habe ich meinen zweiten Zusammenbruch bekommen. Das war der absolute Tiefpunkt. Ich habe alles infrage gestellt. Ich wollte nicht mehr aufstehen, mich nicht mehr waschen, nicht mehr arbeiten.

SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie zu dem Zeitpunkt Suizidgedanken?

Stelter: Ja, ich dachte, wen kümmert es, ob ich noch lebe?

SPIEGEL ONLINE: Wie sind Sie aus dem Tief wieder herausgekommen?

Stelter: Meiner Therapeutin war es wichtig, dass ich einen Wochenplan aufstelle. Da standen Kleinigkeiten drauf wie: Aufstehen, Zähneputzen, Wäsche waschen, Staubsaugen - ich hatte mich ja arbeitslos gemeldet, um mich nur um mich zu kümmern. Der Stundenplan hat mir Struktur für den Tag gegeben.

SPIEGEL ONLINE: Standen da nur Pflichten drauf?

Stelter: Nein. Meine Therapeutin hat mich gefragt, ob ich früher Sport getrieben habe. Ich war 2006 zum Laufen gekommen - sie sagte, also bitte, dann: laufen, laufen, laufen.

SPIEGEL ONLINE: Fiel Ihnen das Laufen schwer?

Stelter: Eigentlich nicht: Ich war immer schon Sportler und habe in der Jugend leistungsmäßig Leichtathletik und Basketball betrieben. Dann kam das Studium, ich habe mich ungesund ernährt, wog auf einmal über hundert Kilo und hatte Bluthochdruck. Als mein Arzt mir dann Blutdruckmedikamente verschrieben hat, war das ein Alarmsignal. Ich fing mit dem Laufen an und schaffte am Anfang keine 800 Meter. Ich blieb aber dran, und dann wurden es schnell mehr. 2008 bin ich dann meinen ersten Marathon gelaufen.

SPIEGEL ONLINE: Und während der Therapie hat Sie der Ehrgeiz wieder gepackt?

Stelter: Es ging erst mal nur ums Laufen. Die Bewegung an der frischen Luft hat mir gut getan. Ich habe mich wieder gespürt und Dinge wie Wärme, Kälte und Regen bewusst wahrgenommen. Es klingt vielleicht etwas abgedreht: Aber ich habe auch mal einen Baum berührt. Ganz einfache, selbstverständliche Dinge habe ich mit neuen Augen gesehen. Das Laufen hat mir mehr Selbstbewusstsein und neuen Mut gegeben. Ich habe mir langsam wieder kleine Ziele bei Laufveranstaltungen gesetzt. Das war gut.

SPIEGEL ONLINE: Wie lange hat es gedauert, bis es Ihnen wieder besser ging?

Stelter: Das erste halbe Jahr war stark von Stimmungsschwankungen geprägt, in der zweiten Hälfte ging es langsam bergauf. Das war ein langer Prozess. Der Sport war nur ein Baustein neben den Medikamenten und der Therapie. Irgendwann meinte meine Therapeutin, ich solle mal meditieren. Und ich dachte nur: Oh nein, was für ein esoterischer Quatsch. Aber ich habe es probiert - und es war super. Das mache ich bis heute.

SPIEGEL ONLINE: Arbeiten Sie noch als Anwalt?

Stelter: Nein, das wollte ich nicht mehr. Ich arbeite Teilzeit in einem Weinladen, was mir sehr viel Spaß macht. Ich habe einen Trainerschein gemacht und veranstalte einen Lauftreff für Depressive .

SPIEGEL ONLINE: Wer kommt zu dem Kurs und was passiert da genau?

Stelter: Ich habe den Lauftreff  2015 zusammen mit dem Düsseldorfer Bündnis gegen Depression ins Leben gerufen. Es nehmen regelmäßig 10 bis 15 Personen teil, depressiv Erkrankte aller Schichten. Sie kommen bei jedem Wetter, egal ob bei Regen, Schnee oder Sonnenschein. Wir machen dort leichtes Lauftraining mit Gehpausen. Es hilft den Menschen, regelmäßig an der frischen Luft zu sein. Ich versuche, den Teilnehmern das zu vermitteln, was mir geholfen hat: Achtsamkeit und das Spüren mit allen Sinnen.

SPIEGEL ONLINE: Im August sind Sie in einer Woche von Düsseldorf nach Leipzig gelaufen. Warum haben Sie das getan?

Stelter: Mich stört, dass psychisch Kranke immer noch stigmatisiert werden. So, als könne man nichts mehr mit ihnen anfangen. Ich bin immer noch leistungsfähig. Das sieht man schon daran, dass ich bei dem Lauf jeden Tag 70 bis 80 Kilometer zurücklegen konnte. Mich reizen lange Läufe. Ich habe auch schon die Tortour de Ruhr  mit einer Strecke von 230 Kilometern absolviert. Ich mag es, mich mit mir auseinanderzusetzen und mich zu spüren. Es ist eine Reise zu mir selbst, mit allen Emotionen. Du lachst, du weinst, du fluchst. Lange Läufe zeigen mir, dass ich Teil des Ganzen bin. Sie zeigen, dass ich lebe.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es Ihnen heute?

Stelter: Derzeit gut. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass Depression gut behandelbar ist - wenn man sich Hilfe holt. Alleine schafft man es nicht. Ich spreche aber ungern von Heilung. Ich denke, die Krankheit wird mich ein Leben lang begleiten, aber ich lerne, damit zu leben und versuche, aufzuklären. Laufen und Meditation haben mich weitergebracht, das muss aber nicht für jeden gelten. Man kann auch töpfern, handwerkeln oder schwimmen. Wichtig ist, dass man auf sich achtgibt, in sich hineinspürt und etwas findet, was einen wirklich erfüllt.

Leiden Sie auch unter Depressionen? Ein Selbsttest der Deutschen Depressionshilfe gibt eine erste Antwort auf diese Frage: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/selbsttest