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Prof. Dr. Martin Bastian, Institutsdirektor des SKZ (Bildqualle: SKZ)

Zunächst zeigt die aktuelle Situation – Stichwort Corona – deutlich, dass eine Krise als Motor für Veränderungen dienen kann und manche Hürden aus dem Leidensdruck heraus schneller zu überwinden sind. So hat die Digitalisierung unserer Industrie schon alleine durch den plötzlichen Zwang zur Distanzierung mit Homeoffice-Lösungen, Online Meetings, Internetshopping und digitalen Bildungsangeboten einen signifikanten Schub und eine deutlich erhöhte Akzeptanz erfahren – auch in der Kunststoffbranche.

Digitalisierung – die Weichen sind gestellt

In der Kunststoffindustrie sind die Weichen mit standardisierten Schnittstellen wie OPC-UA (Open Platform Communications Unified Architecture) gestellt und Maschinen- sowie Peripheriegerätehersteller bieten zukunftssichere Lösungspakete an, die eine über Ethernet und WLAN vernetzte, flexible Produktion unterstützen. Eine wiederholgenaue fehlerfreie Parametrierung von kompletten Produktionsprozessen, die umfangreiche formteilbezogene Erfassung von Qualitätsdaten, eine lückenlose Dokumentation zur Rückverfolgbarkeit sowie die vollständige Einbindung der Fertigung in die Unternehmens- und Kundenlogistik rücken damit auch für mittelständische Unternehmen in greifbare Nähe. Auch die systemgestützte Vorhersage von Wartungsbedarfen ermöglicht nochmals einen Produktivitätsschub und eine Erhöhung der Lieferzuverlässigkeit bei immer weiter reduzierten Beständen. Im SKZ entsteht derzeit, unter anderem gemeinsam mit vielen Industrievertretern, ein praxisnaher Aufbau für die Digitalisierung von Spritzgießtechnologien, der die betriebliche Umsetzung unterstützen soll und auch Unternehmen zum Ausprobieren einlädt. Das ist aber längst nicht alles. In diesen Tagen starten auch endlich die Bauarbeiten zurModellfabrik des SKZ, einer Entwicklungsumgebung mit weltweit einzigartigem Modellcharakter.

Bereits auf der K-Messe 2019 zeigten Pilotanwendungen von AR (Augmented Reality) und VR (Virtual Reality) Systemen auf, wie zukünftig auch anwendungstechnische Optimierung, Service und Reparaturen ohne Reiseaufwand ferngesteuert realisiert werden können. Hierin steckt ein hohes wirtschaftliches Potential für die gesamte Branche durch reduzierte Stillstandszeiten und geringere Servicekosten, was die Umsetzung dieser Technologien beschleunigen dürfte.

Die zeitweise angespannte Liefersituation für dringend benötigte Güter während des globalen Lockdowns im Frühjahr 2020, zum Beispiel in der Medizintechnik, regt die Branche und die Politik dazu an, die fertigungstechnischen Kernkompetenzen und Schlüsselprodukte in der EU und im eigenen Land neu zu hinterfragen. Wenn plötzlich nationale Interessen oder Entscheidungen zu Lieferengpässen führen und die Preise signifikant nach oben treiben, kann eine flexible und effiziente lokale Produktion systemrelevanter Güter zum Schlüssel für Problemlösungen werden.

Additive Fertigung schafft neue Möglichkeiten

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Additiv gefertigtes Kunststoffbauteil. (Bildquelle: SKZ)

Neben der Herstellung von Produkten mit modernen, in den vergangenen 70 Jahren hocheffizient gewordenen und von Plastverarbeiter begleiteten Massenfertigungstechnologien, bietet die schnell wachsende Branche der 3D-DruckAnbieter neuartige Möglichkeiten. Der Siegeszug der additiven Fertigungssysteme über die Grenzen der Prototypenherstellung hinaus begann bereits vor über zehn Jahren mit stets verbesserten Druckverfahren, stabileren Druckprozessen und einer wachsenden Materialpalette.

Seit 2011 arbeitet das CAP (Center for Additive Production) des SKZ in der Forschung und Entwicklung am serientauglichen 3D-Druck von Kunststoffen. Neben zahlreichen Anwendungen für die Medizintechnik und die Industrie laufen hier auch Projekte für den 3D-Druck von Spritzgießwerkzeugen und für die Entwicklung neuer Materialien. Die in 2019 am SKZ erfolgte Ausgründung der Firma Headmade Materials zur Herstellung von Metall-Kunststoff-Compounds, die auf einer Lasersinteranlage die Fertigung von Grünteilen analog zum MIM (Metal Injection Molding) Prozess ermöglichen, unterstreicht die große Bandbreite additiver Technologien und die innovativen Ansätze.

Besonders werden die Vorteile des 3D-Drucks in der Medizintechnik deutlich. Mittlerweile zum Standard gehören beispielsweise individuell angepasste Hörgerätegehäuse und Orthesen. In der medizinischen Anwendung helfen vereinzelt gedruckte Modelle auf Basis von CT-Daten bereits heute bei der Vorbereitung von chirurgischen Eingriffen und verkürzen die Operationsdauer. Auch individuell angefertigte Implantate sind in den metallbasierten Verfahren wie SLM bereits Stand der Technik. Hier können zukünftig Kunststoffe punkten, wenn die Materialentwicklung die Anforderungen an Sterilisierbarkeit, biochemische Stabilität oder Resorbierbarkeit in Produkte umsetzt.

Auf dem Höhepunkt der Corona-Verbreitung ist der 3D-Druck ein Segen, so konnten mit den vielen, bereits im Einsatz befindlichen, Druckern und dem vorhandenen Konstruktionswissen sowohl durch professionelle Anbieter als auch durch Forschungseinrichtungen wie dem SKZ und Hobbyanwender schnell dringend benötigte Artikel, wie etwa Ventile, Gesichtsschutzschilde und Atemmasken, hergestellt werden.

Aber auch viele andere Branchen greifen auf diese hochinnovative Technologie zurück, zum Beispiel zur Fertigung von Ersatzteilen und individualisierte Ausstattungsdetails für Kraftfahrzeuge aus dem Drucker. Einzelanfertigungen und Kleinserien wirtschaftlich ohne Werkzeuge herzustellen, ist aber nur ein wichtiger Aspekt, der diese Branche neben der Massenproduktion nachhaltig etablieren wird. Hochgradig innovative Produkte entstehen erst dann, wenn die vielen Freiheitsgrade von Druckverfahren in konstruktiven Anwendungen vollumfänglich zur Nutzung kommen. Beispielsweise können Hohlstrukturen oder innenliegende Stützgeometrien neuartige Leichtbaukonzepte ermöglichen. Auch das Drucken von kompletten Baugruppen mit integrierten Lagern und Gelenken bietet für kreative Köpfe ungeahnte technische Möglichkeiten. Sobald eine neue 3D-Geometrie erstellt ist, können sehr schnell und preiswert erste Muster zur Konstruktionsoptimierung dienen und die Entwicklungszeiten verkürzen sich deutlich. Neben der beständigen Optimierung von Druckern und Materialien sind bereits heute zunehmend integrierte Verfahren zur Qualitätssicherung von gedruckten Bauteilen verfügbar. Plastverarbeiter begleitet diese Entwicklung von Anfang an und trug Maßgeblich zum Transfer des notwendigen Know-hows bei.

Neue Fertigungstechnik erfordert Bildungsangebote 

Hochwertige Bildungsangebote zu additiven Fertigungsverfahren existieren auch beim SKZ und führen dazu, dass anstelle der autodidaktischen Herangehensweisen zukünftig fachmännische Fertigkeiten und Fähigkeiten treten und dadurch, ähnlich wie nach den Anfängen der Spritzgießfertigung, auch firmeninterner Kompetenzaufbau getrieben wird. Durch die kurzen Optimierungsschleifen, die das Ergebnis einer angepassten Konstruktion oft noch am gleichen Tag am gedruckten Produkt zeigt, wird allerdings die Lernkurve deutlich schneller als bei etablierten Verfahren sein. Für die Erfolge müssen innovative Unternehmen jedoch über die Phase der Spielerei hinaus in die 3D-Druck-Ausstattung und vor allem in die Bildung ihrer Mitarbeiter investieren.

Die schnell wachsende Anzahl internationaler Publikationen und Schutzrechte zeigt, dass Deutschland bei diesen Technologien derzeit weit hinter Asien und den USA liegt. Zur nachhaltigen Nutzung der Chancen und um national den Anschluss nicht zu verlieren oder gar eine führende Rolle zu erlangen, müssen der Staat, die Bildungsträger und die Unternehmen gemeinsam Angebote zeitnah intensiv ausbauen.

Wandel in Richtung Nachhaltigkeit

Auch wenn in den vergangenen Wochen, geprägt durch die Corona-Krise, das Thema Kunststoffmüll, Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung aus den Schlagzeilen verschwunden ist, steht in der Kunststoffindustrie diesbezüglich ein umfangreicher notwendiger Wandel an. Studien und vor allem Bilder in den Medien führen oft dazu, dass das Thema Kunststoff in der Umwelt zunehmend emotional diskutiert wird. Dennoch haben nicht nur die letzten Wochen auch gezeigt, dass Kunststoff Leben retten kann und die Branche sehr wandlungs- und anpassungsfähig ist. So konnte bei vielen Firmen innerhalb kürzester Zeit zum Beispiel die Produktion auf Schutzausrüstungen für die aktuelle Covid-19-Krise umgestellt werden.

Die Kunststoffindustrie, als relativ junge Branche, hat in den letzten Jahren auch in anderen Bereichen immer wieder die Wandlungsfähigkeit und Innovationsfreude unter Beweis gestellt. Durch die eingeführten Recyclingquoten und ein Umdenken bei Verpackungen – Stichwort Design for Recycling – kommen nun zunehmend Materialien und Produkte auf den Markt, die das Recycling vereinfachen oder einen biobasierten beziehungsweise bioabbaubaren Hintergrund haben.

Über Aspekte der Nachhaltigkeit berichtete der Plastverarbeiter bereits häufig, und seit vielen Jahren orientiert sich das Denken und Handeln der Forschung und Entwicklung am SKZ an wichtigen Aufgaben aus diesem Themenfeld. Welche Einzelaspekte dabei als nachhaltig gelten, wird jedoch je nach Aufgabenstellung unterschiedlich ausgelegt, so folgt zum Beispiel eine Werkzeugkonstruktion anderen Nachhaltigkeitsregeln als eine Kunststoffrezeptur oder ein daraus gefertigtes Produkt. Im Sinne einer möglichst weitgreifenden und auch die Belange der Ökosphäre berücksichtigenden Nachhaltigkeit werden momentan am SKZ vier Themenbereiche der Kunststoffe besonders betrachtet:

  • die Einbringung nachwachsender Rohstoffe
  • eine biologische Abbaubarkeit und ihre Parameter
  • das Konzept „zero pellet loss“ und
  • ein Recycling, das von werkstofflicher Wiederverwendung geprägt ist.

Hierbei haben insbesondere die betrachteten Bilanzgrenzen großen Einfluss auf die Umsetzung der Themenbereiche. Das SKZ möchte innerhalb der vier Programme ausdrücklich über jene Bilanzgrenzen hinausdenken, die üblicherweise betrachtet werden: Produktionsstandorte, Fertigungsstraße, Abfallwege, Verwertungsbetriebe. Auch aus größeren Bilanzfeldern sollen möglichst Stoffströme erfasst und zurückgeführt werden wie Marine Litter, terrestrischer Abfall, bisher unberücksichtigte Verluste jeder Art. Durch das bereits erfolgte Umdenken und durch Gesetzesvorlagen wird das Thema die Branche und damit die material- und produktneutrale Berichterstattung von Plastverarbeiter auch in den kommenden Jahren begleiten.

 

70 Jahre Kunststoffinnovationen

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Prof. Dr. Martin Bastian, Institutsdirektor des SKZ (Bildqualle: SKZ)

1953, im gleichen Jahr als Hermann Staudinger den Nobelpreis für seine bahnbrechenden Erkenntnisse in der makromolekularen Chemie erhielt, erschien in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Plastverarbeiter ein spannender, vorausblickender Artikel zum Thema „Pressen oder Spritzen“. Damals erschien das Magazin in seinem 4. Jahrgang, gegründet wurde es im Jahr 1950. Seitdem hat das Magazin in mehr als 800 Ausgaben in herausragender Weise zur Verbreitung des Wissens rund um die Kunststoffindustrie beigetragen und den Siegeszug von Kunststoffen in allen Lebens- und Industriebereichen maßgeblich mit ermöglicht und geprägt. Zum 70-jährigen Jubiläum gratuliere ich deshalb ganz herzlich im Namen des SKZ, denn 70 Jahre Plastverarbeiter sind auch rund 60 Jahre gemeinsame SKZ-Geschichte. Ich bin mir sicher, dass es auch in den kommenden Jahrzehnten mit genauso vielen Innovationen, Anwendungen und Erfolgsberichten weitergeht und freue mich schon sehr auf die weitere gemeinsame Zusammenarbeit.

 

 

Ist Institutsdirektor des SKZ in Würzburg

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SKZ – Das Kunststoff-Zentrum

Friedrich-Bergius-Ring 22
97076 Würzburg
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