Business Transformation Aufbrecher

„Wir brauchen Kontextkompetenz“

Interview „Innovativ ist, was das Leben besser macht", sagt der Journalist und Buchautor Wolf Lotter. Es gehe nicht darum, nur Einzelprobleme zu lösen, sondern in Zusammenhängen zu denken. Innovation brauche ein Ziel, meint Lotter.

Die Wissensgesellschaft muss überraschungsfähig sein, sagt Wolf Lotter. Foto: S.E. Paulus 2013
Die Wissensgesellschaft muss überraschungsfähig sein, sagt Wolf Lotter. Foto: S.E. Paulus 2013

Herr Lotter, lassen Sie uns mit einer simplen Frage starten: Was ist Innovation?

Innovation ist alles, was das Leben besser macht, eine Funktion optimiert. Es geht nicht um die alles verändernde Neuerung, mehr um die Stückwerktheorie Karl Poppers. Um die vielen kleinen Schritte nach vorn. Grundlegend für Innovation ist nur eines: Die Bereitschaft, Bestehendes infrage zu stellen und zu experimentieren. Sich eben nicht mit dem, was ist, zufrieden zu geben. René Descartes hat gesagt: „Der Zweifel ist der Weisheit Anfang.“ Da steckt alles drin, für mich ist das der größte Satz der Aufklärung.

Wir haben zu lange gedacht, wir seien die weltbesten Autobauer, die weltbesten Maschinenbauer, die weltbesten Ingenieure. Und haben uns eben nicht hinterfragt.
Wolf Lotter

Wenn es danach ginge, müssten wir Deutschen die größten Innovatoren sein, so unzufrieden wie viele sind.

Wir sprechen nicht vom Nörgeln oder Mäkeln. Sondern vom Gegenteil der selbstgerechten Haltung, die allenthalben vorherrscht. Wir haben zu lange gedacht, wir seien die weltbesten Autobauer, die weltbesten Maschinenbauer, die weltbesten Ingenieure. Und haben uns eben nicht hinterfragt, wollten nicht wissen, wie wir das Leben ein wenig besser machen könnten, weil doch alles schon so gut war. Und dann kommt jemand wie Elon Musk und zeigt, dass man es eben doch anders und besser machen kann. Und wir schauen hinterher.

Wolf Lotter
Wolf Lotter ist Autor von „Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken“ (2018) und „Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“ (2020) sowie Gründungsmitglied und langjähriger Leitessayist von brand eins.
Zur Homepage von Wolf Lotter.

Warum sind wir so selbstzufrieden?

Gedanklich leben wir Deutschen immer noch in der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Industriegesellschaft war Innovation technisch. Und technisch sind die deutschen Verbrennungsmotoren auf dem höchsten Stand, technisch sind unsere Maschinen und Anlagen voll entwickelt. So effizient wie möglich. Aber heute geht es nicht um technische Effizienz. Es geht um kulturelle und soziale Innovation. Innovationen machen heute effektiver, nicht effizienter. Sie ändern also auch die Spielregeln und sind nicht bloß ein weiterer Schritt in einer Entwicklung. Wir leben eben nicht mehr in der Industriegesellschaft, unsere ist eine Wissensgesellschaft. Und in der Wissensgesellschaft müssen wir überraschungsfähig sein. Aber wenn Wissen die wichtigste Währung ist, können wir uns nicht zufriedengeben, weil wir schlicht nie genug wissen. Unser Problem ist, dass wir den Kontext nicht sehen, in dem wir handeln.

Was meinen Sie damit?

Technische Innovation, wie wir sie seit Jahren sehen, ist im Grunde das Drehen an einer Schraube hier und einer Schraube dort. In einer Netzwerkökonomie – und wir leben mittlerweile in einer Netzwerkökonomie – reicht das Drehen an Schrauben aber nicht mehr aus. Es kommt auf den Kontext an, auf den Zusammenhang der Dinge. Warum ist die deutsche Autoindustrie in Sachen Elektromobilität ins Hintertreffen geraten? Weil sie das Problem nur technisch betrachtet hat. Und dann waren 250 Kilometer Reichweite eines Elektromotors eben nicht genug. In einer Welt, in der es um eine neue Weise der Fortbewegung geht, bekommt die Reichweite eines Elektroautos eine andere Bedeutung. Anders gesagt: Wir haben in den vergangenen Jahren mehrheitlich nur im Rahmen des Bekannten gedacht. Entscheidend ist aber die Frage, ob wir uns eine andere Kultur vorstellen können, einen anderen Kontext, in dem Parameter eine Bedeutungsverschiebung erleben.

Innovative Organisation gibt es nicht. Eine Organisation kann nicht innovativ sein. Denn sie hat die Funktion, den Status quo zu ermöglichen.
Wolf Lotter

Dabei haben Unternehmen massiv ins Innovationsmanagement investiert …

Innovative Organisation gibt es nicht. Eine Organisation ist nicht innovativ, sie kann es nicht sein. Denn sie hat die Funktion, den Status quo zu ermöglichen und Inkompatibles kompatibel zu machen, wie Armin Nassehi sagt, die vielen gegenläufigen Interessen zusammenzuhalten. Gleichzeitig muss die Organisation Freiräume schaffen, denn innovativ können nur die Menschen sein. Und das fällt vielen nach wie vor schwer, weil die Kultur der Digitalisierung immer hinterherhinkt. Wissensarbeiter wissen heute in ihren Teilgebieten viel mehr als ihre Führungskraft. Aber die sieht das in der Regel nicht, denkt immer noch, alle müssten sich nach ihr richten. In solchen Strukturen fragt man sich drei Mal, ob man seine Ideen zu Elektroantrieben ausspricht und den Chef der Verbrennungsmotoren verärgert – oder ob man sich still verhält und auf die Beförderung wartet.

René Descartes hat gesagt: „Der Zweifel ist der Weisheit Anfang.“ Da steckt alles drin.
Wolf Lotter

Oliver Sowa, Geschäftsführer der mittelständischen Beutlhauser Gruppe, hat neulich im Interview gesagt, Unternehmen müssten ihre Mitarbeiter „von den Fußfesseln“ befreien.

Recht hat er. Aber das gilt nicht nur für Unternehmen, es gilt für die Gesellschaft als Ganze. Wir sind zu einer Gesellschaft der Rüberretter geworden, materiell und kulturell. Wir versuchen alles, die Werte der Industriegesellschaft in die Wissensgesellschaft zu integrieren. Und auch die Politik denkt weiter in den Idealen und Strukturen des 19 Jahrhunderts. Sie hat kein Bild vom mündigen Menschen. Genauso wenig wie die Apokalyptiker unter den Klimaaktivisten, auch die glauben, Menschen müssten die richtigen Maßnahmen aufgezwungen werden. Apokalyptisches Denken und Sprechen ist aber nicht innovativ.

Warum dominiert in Deutschland die Apokalyptik?

Wir sprechen in Deutschland immer von „bewältigen“. In anderen Ländern geht es um Gestaltung. Ob Klima, Corona, Mobilitätswende – wir sehen alles als Gefahr, die wir abwehren müssen. Das zeigt sich auch in unseren Diskussionen über Künstliche Intelligenz. Überall nur Risiko und die Frage „Was macht KI mit uns?“. Die richtige Frage wäre aber „Was machen wir mit Künstlicher Intelligenz?“. Wir sollten sie als Werkzeug begreifen, das uns helfen kann, unsere Ziele zu erreichen. Nur müssten wir dafür zum einen Ziele haben und zum anderen aus der Defensive herauskommen. Es ist, einfach gesagt, eine Frage der Einstellung, des berühmten Mindset. Bislang verstehen wir uns als Opfergemeinschaft und begreifen Veränderungen als ein Naturereignis, das über uns hereinbricht. Wenn wir das nicht angehen und ändern, können wir nicht innovativ sein.

Wir müssen das große Ganze sehen. Da hilft nur vernetztes Denken, für das es Kontextkompetenz braucht. Die Lust am praktischen Sinn also.
Wolf Lotter

Und wie kommen wir aus der Passivität heraus?

Wir müssen aufhören, immer nur einzelne Probleme zu sehen und die lösen zu wollen. Es geht um die Zusammenhänge, den Kontext. Nehmen wir das Beispiel Mobilität. Da müssen wir zuerst einmal klären, worum es uns eigentlich geht. Wollen wir nur das Auto aus den Innenstädten verbannen oder Mobilität wirklich anders begreifen? Für die autofreie Innenstadt reichen horrende Parkgebühren und Parkverbote. Aber dann kommen die Menschen von außerhalb eben nicht mehr in die Städte. Gewonnen ist damit nichts. Wenn wir wirklich neue Mobilitätskonzepte entwickeln wollen, geht es um viel mehr, nämlich um die Frage, wie Menschen schnell, bequem und nahtlos von A nach B kommen. Das ist viel komplexer. Denn wir müssen dann das große Ganze sehen. Da hilft nur vernetztes Denken, für das es Kontextkompetenz braucht. Die Lust am praktischen Sinn also. Am Beispiel Mobilität wird auch deutlich, dass Poppers kleine Schritte der richtige Weg sind. Solch komplexe Herausforderungen lösen wir nicht in einem Rutsch.