Leadership & Karriere Will arbeiten, aber bewirbt sich nicht – wie sich die stille Reserve am Arbeitsmarkt heben lässt

Will arbeiten, aber bewirbt sich nicht – wie sich die stille Reserve am Arbeitsmarkt heben lässt

1,7 Millionen Stellen sind unbesetzt. Das hindert Unternehmen daran mit voller Kraft zu produzieren. Gleichzeitig haben mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland eine gute Ausbildung und könnten an sich arbeiten, aber sie bewerben sich nicht. Welche Wege gibt es Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zusammenzubringen?

Sie haben eine Ausbildung, sie wollen eigentlich arbeiten, und sie sind viele – sind sie vielleicht die Lösung gegen den Mangel an Arbeitskräften, der mehr und mehr zum Hemmnis für Wirtschaftswachstum wird? Die Rede ist von der sogenannten stillen Reserve.

Dazu hat das Statistische Bundesamt jetzt beeindruckende Zahlen veröffentlicht, die nahelegen, dass hier eine Art ungehobener Schatz schlummert, der die Wirtschaft wieder in Fahrt bringen könnte, wenn ihn einer hebt.

Arbeitsmarktforscher verstehen unter der stillen Reserve Arbeitnehmer, die nicht in der amtlichen Statistik als Beschäftigte oder Arbeitslose auftauchen, erfahrungsgemäß aber dem Arbeitsmarkt unter bestimmten Bedingungen zur Verfügung stehen und somit zu den möglichen Erwerbstätigen gehören. Dazu zählen Menschen, die sich nicht arbeitslos melden, weil sie entweder keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben oder nicht damit rechnen, dass sie von der Agentur für Arbeit vermittelt werden. Es handelt sich zum Beispiel um die 40-jährige Mutter, die längere Zeit aus dem Job raus war, sich inzwischen abgehängt fühlt und nicht wagt, sich zu bewerben. Oder der 60-jährige Dachdecker, der seine Arbeit mag, sie aber körperlich nicht mehr schafft. Oder der Minijobber, der gerne einen normalen Vollzeitjob hätte, aber den Sprung nicht schafft. 

Der überwiegende Teil der stillen Reserve verfügt über ein mittleres bis hohes Qualifikationsniveau, also mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Hoch- bzw. Fachhochschulreife haben die Statistiker herausgefunden. In Deutschland gibt es fast 3,2 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren, die sich nach eigenen Angaben zwar Arbeit wünschen, aber kurzfristig aus verschiedenen Gründen keinen offiziellen Beruf haben.

Umgekehrt fehlen Unternehmen Arbeitskräfte. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zählte im vierten Quartal 2023 noch gut 1,7 Millionen offene Stellen. Zeitgleich waren im vergangenen Jahr hierzulande fast 46 Millionen Menschen erwerbstätig – so viele wie noch nie seit der deutschen Vereinigung 1990, meldet das Statistische Bundesamt. Es herrscht also Mangel auf dem Arbeitsmarkt.

Die Arbeitsmarktforscherteilen die stille Reserve in drei Gruppen ein. In der ersten befinden sich etwa 372.000 Menschen. Diese geben an, dass sie zwar Arbeit suchen, aber zum Beispiel wegen Betreuungspflichten kurzfristig keine Arbeit aufnehmen können. Diese Gruppe ist überwiegend weiblich. Begründet werden kann das unter anderem mit dem immer noch hohen Gender-Care-Gap in Deutschland: Frauen bringen täglich 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Umgerechnet sind das 79 Minuten Unterschied pro Tag. Das ist Zeit, die Frauen für die Erwerbsarbeit fehlt und Auswirkungen auf ihre Entlohnung, ihre beruflichen Chancen, ihre ökonomische Eigenständigkeit und ihre Alterssicherung hat. Bettina Kohlrausch von der SPD nahen Hans-Böckler-Stiftung sagte dazu gegenüber der WirtschaftsWoche: „Das liegt zum Teil daran, dass Frauen immer noch weniger verdienen, da sie häufiger in schlecht bezahlten Branchen arbeiten. Da macht es mehr Sinn, auf das Gehalt der Frau zu verzichten“. 

Die zweite Gruppe in der stillen Reserve besteht aus etwa 945.000 Personen. Diese würden nach eigenen Angaben gerne arbeiten, aber sie suchen aktuell keine Arbeit, weil sie glauben, keine passende Tätigkeit finden zu können. Der größten Gruppe gehören 1,85 Millionen Menschen an. Diese Menschen suchen keine Arbeit und sind auch kurzfristig nicht verfügbar, könnten sich das aber generell vorstellen. 

Die – alles andere als neuen – Möglichkeiten, die stille Reserve zu heben sind zum Beispiel  Betreuungsangebote und flexible Arbeitszeitmodelle, wie Enzo Weber, Wissenschaftler beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg aufzählt. Er hat aber auch gerechnet und kommt zu dem Schluss: „Die berufliche Entwicklung von Frauen knickt mit der Kinderphase häufig ab. Die dauerhaften Verluste sind dabei weit relevanter als die Stundenreduktion, während die Kinder klein sind.“

Für Weber müsste es auch einen Fokus auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die in körperlich belastenden Berufen arbeiten. Diese sollten rechtzeitig für andere Tätigkeiten qualifiziert werden, um länger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Gesundheitliche Einschränkungen spielen für beide Geschlechter eine bedeutende Rolle: für 35 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen in der stillen Reserve war dies der Hauptgrund ihrer Inaktivität am Arbeitsmarkt.

Dass das ganze ärgerlich ist – darüber sind sich die Experten einig: „Die stille Reserve sollte schnell laut werden, denn in den kommenden Jahren werden fünf bis sieben Millionen den Arbeitsmarkt verlassen“, sagt ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sie müsse angezapft werden, um den Fachkräftemangel zumindest etwas aufzufangen. Dabei dürften wohl nicht alle mobilisiert werden können – aber zumindest doch die knappe Million, die angibt, arbeiten zu wollen. „Umschulungen und aktive Arbeitsvermittlung sind unabdingbar“, fügte Brzeski hinzu.

Lia Roth, die sich „Kommunikationsexpertin mit Transformationskompetenz“ nennt, selbst Managerin war und Mutter ist, bringt eine weitere Idee ins Spiel. Tatsache sei, sagt sie: „in diesem Pool schwimmen viele Goldfische“. Die brauchten nur einen unwiderstehlichen „Köder“, der sie anlockt und dazu bringt, ihre Komfortzone zu verlassen und sich auf das Abenteuer Arbeitsmarkt einzulassen. Roth wirbt für ihre Idee der Returnships. Es geht um Spezialprogramm von Unternehmen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern helfen, ihre Qualifikationen aufzufrischen. So etwas gibt es schon: Das US-Cloud-Computing Unternehmen Salesforce nennt sein entsprechendes Programm „Bring woman back to work“, das Beratungshaus Accenture in der Schweiz kennt das Embark-Programm, das das gleiche Ziel hat. Roth sprich von „vielversprechende Ergebnisse für die Firmen“, von „hochqualifizierten Bewerbern und einer hohe Rate von Festanstellungen am Ende des Programms“. „Diese Programme“, fügt sie hinzu, „stellten den Glaubenssatz in Frage, dass Karrierebrüche schädlich sind für die eigene Karriere.“

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