von Samuel Schlaefli

Wenn Geschichten unter den Nägeln verfaulen

Der Umgang von Redaktionen mit freien Journalistinnen und Journalisten dient immer auch als Gradmesser für den Zustand der Branche. Einst als Freigeister und wertvolle Ideengeber geschätzt, werden sie heute auf den Redaktionen oft noch als Bittsteller geduldet. Eine persönliche Zwischenbilanz nach zehn Jahren freier Journalismus.

Es war eine dieser Absagen: «Wir drucken grundsätzlich keine Zweitverwertungen», liess mich der Redakteur einer grossen deutschen Wochenzeitung wissen. Ich hatte seinem Blatt eine Reportage über ein Schweizer Ökotourismusprojekt im Amazonasbecken Ecuadors angeboten, die bereits in der Schweiz publiziert wurde. Egal. Ich habe mich über die vergangenen zehn Jahre genauso an Absagen gewöhnt, wie an das «Könnten Sie uns Ihre Fragen bitte per E-Mail zukommen lassen», von Pressesprechern. Immerhin forderte mich der Redakteur dazu auf, mich gerne wieder bei ihm zu melden mit einer Exklusivgeschichte, von der ich denke, dass sie passen könnte. Auf meine Nachfrage, ob es in seinem Ressort derzeit vielleicht bestimmte Schwerpunkte oder Interessen gebe, die bei der Suche nach entsprechenden Geschichten helfen, kam der pathetische Hammer: «Ich habe da ein ganz einfaches Prinzip: Ich will von meinen freien Autoren jene Geschichten lesen, die ihnen seit Jahr und Tag unter den Nägeln brennen.» Das klang genau nach derjenigen gloriosen Medienrealität, die ich einst vor zehn Jahren, vor meinem Einstieg in den freien Journalismus, imaginiert hatte: Man schreibt Geschichten über Themen, die einem unter den Nägeln brennen – und alle interessieren sich dafür. Heute weiss ich: Die grösste Gefahr eines freischaffenden Journalisten besteht darin, dass ihm solange unter den Nägeln brennt, bis er den Bettel ausgebrannt hinschmeisst.

Das ist viel Arbeit. Unbezahlte Arbeit. Dabei ist es den Redakteuren vollkommen egal, wie stark einem ein Thema unter den Nägeln brennt.

Die Realität eines freischaffenden Journalisten heute ist nämlich folgende: Zu Spitzenzeiten, etwa im Sommerloch, wenn die Redaktionen ferienbedingt schwächer belegt sind, verbringe ich die Hälfte meiner Zeit damit, Exposés zu Geschichten zu verfassen, «die mir seit Jahr und Tag unter den Nägeln brennen», aber trotzdem nie den Weg an die Öffentlichkeit finden. Man sucht Redaktionskontakte raus, bietet Geschichten an, fasst drei Mal per E-Mail und einmal telefonisch nach, um dann mit einer kurz gehaltenen Absage abgespeist zu werden. Das ist viel Arbeit. Unbezahlte Arbeit. Dabei ist es den Redakteuren vollkommen egal, wie stark einem ein Thema unter den Nägeln brennt. Meist passen sie einfach nicht: Da war kürzlich schon was ähnliches. Schon interessant, aber wir haben keinen Platz dafür. Im Ausland bringen wir nur noch Tagesaktuelles. Und so weiter…

Ich erinnere mich zum Beispiel an den Klimagipfel in Paris (COP 21) im Dezember 2015. Mit etwas Pathos könnte man sagen: Es ging um die Zukunft unseres Planeten, die Zukunft der Menschheit, die Zukunft jedes einzelnen von uns. Durchaus ein aktuelles und relevantes Thema, würde ich behaupten. Ich war eine Woche lang in Paris, unter Menschen aus aller Welt, die in ihren Heimatländern schon heute von den Auswirkungen der globalen Erwärmung betroffen sind. Unter solchen, die extra nach Paris gekommen waren, weil sie sich vor einer immer unwägbareren Zukunft fürchten. Und solchen, die sich dagegen wehren, dass wenige Grosskonzerne Milliarden umsetzen, indem sie die von ihnen verursachten Umweltschäden externalisieren und auf die Gemeinschaft abwälzen. Das Thema brannte mir unter den Nägeln, gewiss. Trotzdem interessierte sich im Vorfeld keine einzige Redaktion für eine Geschichte aus Paris. Dass dem historischen Gipfel in der Schweizer Presse dann etwa soviel Platz eingeräumt wurde, wie dem Quartalsergebnis einer Schweizer Grossbank, liess mich daran zweifeln, inwiefern Relevanz heute im Journalismus noch ein Auswahlkriterium für Geschichten ist. «Relevant ist, was unsere Leser wollen», höre ich die Redakteure schreien.

«G-20 – das können wir uns auch von unserer Partnern in Deutschland holen», beschied mir ein Redaktor eines grossen Schweizer Verlags.

Dasselbe wiederholte sich im Juli beim G-20-Gipfel in Hamburg: Eine Woche vor Ort, selbst bezahlt, alles auf eigenes Risiko. Niemand war an einer Reportage oder Hintergrundgeschichte interessiert. Niemand wollte der Frage nachgehen, was mit dem Verhältnis von Bürgerinnen zur Politik geschieht, wenn in der eigenen Stadt ein zweitägiges Politspektakel mit 20`000 Polizisten abgehalten wird, welches die Bürger Millionen kostet und sehr viel Ärger, weil sie sich durch einen staatlich verordneten Ausnahmezustand tagelang nicht mehr frei bewegen können? «G-20 – das können wir uns auch von unserer Partnern in Deutschland holen», beschied mir ein Redaktor eines grossen Schweizer Verlags.

Natürlich, die Zeiten sind rau geworden im Medienbusiness. Natürlich, die Redaktoren verteidigen auch nur ihre geschrumpften Budgets und die letzten schreibenden Mohikaner auf ihren Redaktionen. Und natürlich ist es ungemütlich geworden in den gläsernen Grossraumbüros. Doch zumindest findet das Leid der noch fest angestellten Journalistinnen und Journalisten meist den Weg an die Öffentlichkeit (sie sind schliesslich an der Quelle). Jede Entlassungswelle von St. Gallen bis Genf führt zum berechtigten empörten Aufschrei. Die Freien hingegen sind die stillen Leidenden. Schliesslich haben sie sich längst daran gewöhnt, ohne vernünftige Altersvorsorge zu arbeiten, mit monatlichen Gehaltsfluktuationen zu leben, Geschichten zu recherchieren und zu entwickeln, ohne dafür bezahlt zu werden, auf Weiterbildungen zu verzichten, weil diese niemand zahlt. Alles für die Geschichten, die ihnen seit Jahr und Tag unter den Nägeln brennen.

Will ich ein vernünftiges Werk schaffen, so bin ich heute auf die Finanzierung von Stiftungen angewiesen.

«Kann man davon leben?», ist jeweils die logische Folgefrage, wenn sich jemand nach meinem Job erkundigt. Freie Künstler kennen das schon lange. Sie produzieren nichts, was auf dem Markt nachgefragt wird, sondern setzen sich kritisch mit ihrer Umwelt auseinander. Bei freien Journalisten, die für ihre Geschichten brennen, scheint das mittlerweile ähnlich zu sein. Es gibt weitere Parallelen zu den neuen Genossen im idealistischen Becken der Selbstausbeutung: die Finanzierung. Will ich ein vernünftiges Werk schaffen, sagen wir eine fundierte Reportage über die Ausbeutung der Indigenen durch Erdölfirmen in Ecuador oder die rückläufige Medienfreiheit im vermeintlich demokratischen Myanmar, so bin ich heute auf die Finanzierung von Stiftungen angewiesen. Nur sie sind noch bereit, Geld in die Hand zu nehmen und die Fixkosten zu decken, damit überhaupt noch jemand in die Welt hinaus geht, mit den Menschen vor Ort spricht, sich Schauplätze und Ereignisse anschaut. Um ein Reportageprojekt einzureichen ist meist eine grössere Vorrecherche nötig. Auch hier gilt: Das ist viel Arbeit. Unbezahlte Arbeit.

Wenn es gut kommt, veröffentlichen die Redaktionen meine stiftungssubventionierten Geschichten, zum Beispiel aus Myanmar oder Ecuador, gegen ein Honorar ab, das im besten Fall einen Drittel des Aufwands deckt, für die Recherche vor Ort und um die Eindrücke, Notizen, Tonaufnahmen und Bilder in mühevoller Arbeit zu einem stark komprimierten und kohärenten Werk zu verarbeiten. Doch selbst das nur mässig enthusiastisch, wie ich kürzlich bei einer Redaktion erleben musste, die meine Geschichte zwar «ein tolles Stück und sehr speziell» fand, diese aber trotzdem erst drei Monate nach dem vereinbarten Termin abdruckte. Drei Monate ohne Möglichkeit, die Geschichte woanders für eine Zweitverwertung oder einen Wettbewerb einzureichen. Obschon die Honorare für Zweitverwertungen heute im besten Fall noch dazu ausreichen, um dreimal einen Migros-Sack zu füllen. Und wie wir zu Beginn dieses Textes gelernt haben: Wer es sich leisten kann, druckt sowieso keine Zweitverwertungen.

Schliesslich erschien die Reportage aus Ecuador in einer dermassen gekürzten Fassung, dass man sich fragt, wofür man all den Aufwand betrieben hat. Die Bilder grossformatig und viel Weissraum zur Präsentation von Titel und Legende. Mit den verbleibenden Zeichen lässt sich dem Anspruch der Stiftung, das Verständnis von sozioökonomischen Zusammenhängen in Entwicklungsländern zu fördern, nur schwerlich gerecht werden. Wer auf 9000 Zeichen die Welt erklären soll, hat keinen Platz mehr um die Leserschaft durch sinnliche Eindrücke vor Ort – eigentlich das Privileg des Reporters – für sein Thema und seinen Text zu begeistern. Ist aber auch nicht so wichtig; Hauptsache es sieht gut aus und verkauft sich. Schliesslich braucht es auch noch Platz für Themen, wie «Soll man Burger mit Messer und Gabel essen?» oder «Was Frauen wirklich wollen». Für was noch lange recherchieren oder reisen, wenn man mit Belanglosigkeiten, Meinungen und unausgegorenen Halbwahrheiten viel mehr Klicks generieren und damit Chefredaktion und Verlag zufrieden stellen kann?

Man könnte woanders mit so viel weniger Aufwand so viel mehr Geld verdienen.

Besonders nervenaufreibend sind diejenigen Magazine, die zwar hundert Ansprüche an einen (stiftungssubventionierten) Text aus dem Ausland haben, jedoch kein Geld, um den dafür betriebenen Aufwand auch nur ansatzweise selbst zu bezahlen. Da muss plötzlich noch ein Schweizbezug hin, wo er nur mässig Sinn macht. Oder der Reporter soll sich bitteschön selbst aus dem Text nehmen, weil das verwirrend sei. Eine Redakteurin trieb mich mehrmals an die Grenze meiner soliden Geduld, mit der Bitte (nicht nachgekommen) für meine Auslandgeschichten, die ich meist selbst fotografiere, doch bitte einen «professionellen» Fotografen zu buchen. Für 200 Franken – «für einen Fotografen in einem Entwicklungsland ist das schliesslich viel Geld». Und für mich bedeutet es einen Zusatzaufwand, der höher liegt, als das Honorar für den Fotografen.
Das Frustrierende am Klinkenputzen für Publikationsmöglichkeiten von Geschichten, die einem seit Jahr und Tag unter den Nägeln brennen, und den unterirdischen Honoraren: Man könnte woanders mit so viel weniger Aufwand so viel mehr Geld verdienen. Mit einem Interview oder Porträt über zwei Seiten für ein Mitarbeitermagazin zum Beispiel. Ein stündiges Treffen, ein, zwei Telefonate, ein halber Tag Schreibarbeit, etwas Redigieren und 800 Franken sind auf dem Konto. Das wirft heute beinahe gleich viel ab, wie eine Reportage, für die man drei Tage vorrecherchiert hat, zwei Wochen vor Ort war und danach zum Verfassen des Textes nochmals drei Tage lang am Pult geschwitzt hat.

Manche mögen einwerfen, das sei ein persönliches Problem privilegierter Idealisten und gehe sie nichts an. Bullshit! Wenn freischaffende Journalisten nur noch mit Unternehmenspublikationen Geld verdienen können, dann wird das persönliche Problem zum systemischen. Das heisst nämlich nichts anderes, als dass die ökonomischen Realitäten Journalisten heute dazu zwingen ihren Hirnschmalz für den Verkauf von Produkten und Images zu vergeuden, anstelle sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Natürlich ist das ein Abbild unserer durchökonomisierten Gesellschaft: Information, Aufklärung, Beiträge zur Stärkung der Demokratie haben keinen Wert – zumindest keinen ökonomischen. Nur dort, wo sie der Geldvermehrung oder Reputation einer Organisation, sprich der neoliberalen Ordnung dienen, steht auch Geld dafür bereit. Dass wir uns in einer weltpolitischen Lage befinden, in der Populisten über Jahrzehnte hart erkämpfte Erfolge in Sozialwesen und Umweltschutz rückgängig machen und überall Hass säen, hat auch damit zu tun.

Mehrdimensionale Verstrickungen zwischen Umwelt, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, lassen sich nun Mal schlecht in 140 Zeichen ergründen.

Investition in Journalismus, auch den freien, wäre heute wichtiger denn je. Nicht damit ich mir in Zukunft ein Häuschen in der Agglo und vierwöchige Ferien auf den Fidschi-Inseln leisten kann. Sondern damit nicht selbsternannte Pseudopublizisten, Propagandakanäle und Hassprediger die Deutungshoheit über eine an Komplexität zunehmende Welt übernehmen. Mehrdimensionale Verstrickungen zwischen Umwelt, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, lassen sich nun Mal schlecht in 140 Zeichen ergründen. Um Raum dafür zu schaffen, braucht es Redaktorinnen und Redaktoren, die ein Interesse an relevanten Geschichten haben und die den (freien) Journalisten dafür den Rücken frei halten. Und um ein Publikum dafür zu finden, braucht es eine interessierte Öffentlichkeit, der es nicht egal ist, ob sie mit Nachrichten-Junk abgespeist wird oder Geschichten zu lesen bekommen, die den Horizont erweitern.

Dann müssten wir Journalisten uns nämlich auch nicht mehr ständig die Leier von den parteiischen Medien anhören, die von was weiss ich für einer Macht gelenkt werden. Wie dieses grundsätzliche Misstrauen gegenüber «den Medien» und «den Journalisten» zustande kommt, durfte ich kürzlich beim Besuch eines Freundes im Berner Oberland erleben. Als ich ihn fragte, worauf sein Misstrauen beruhe und weshalb es ihm heute so viel schwerer falle, sich eine fundierte Meinung über unser Weltgeschehen zu machen, zeigte er mir auf seinem Smartphone zwei Websites (zur Lektüre von Zeitungen und Magazinen kommt er schon länger nicht mehr): «Russia Today» und «KenFM». Der ins Ausland verlängerte Arm des Kremls also, und die Plattform eines gefallenen Radiomoderators, der sich darauf spezialisiert hat Verschwörungstheorien und Anti-Establishment- Gefasel zu verbreiten. Kein Wunder ist mein Freund verwirrt.

Doch was ist, wenn mich eine Studentin oder ein Student danach fragt, ob ich ihr oder ihm den Weg in den freien Journalismus nahelegen würde?

Vor wenigen Tagen erhielt ich eine E-Mail von einer befreundeten Kulturanthropologin. Ob ich wie schon letztes Jahr Lust hätte vor Ihren Studierenden über meine Arbeit Auskunft zu geben, gefolgt von einer Schreibwerkstatt. Ich sagte zu. Nicht wegen der «symbolischen Anerkennung» von 100 Franken, sondern weil das Schreiben zusammen mit den Studierenden Spass macht, weil ich gerne von meiner Arbeit erzähle und es dem Ego schmeichelt, wenn sich Leute dafür interessieren. Ich werde also vom Glück erzählen, Recherchen mit Reisen in fremde Länder verbinden zu können, von der Welt zu lernen und einer interessierten Leserschaft von Erlebnissen und Erkenntnissen erzählen zu dürfen. Vom Privileg, seine Arbeitszeit selbständig zu organisieren und von der Freude (und gelegentlich auch dem Frust), wenn man eine gelungene Reportage mit packenden Bildern erstmals gedruckt in den Händen hält.

Doch was ist, wenn mich eine Studentin oder ein Student danach fragt, ob ich ihr oder ihm den Weg in den freien Journalismus nahelegen würde? Unbedingt, denn mehr Freiheit, mehr Zugänge, mehr Befriedigung der eigenen Neugierde an der Welt bietet kein anderer Job. Auf keinen Fall, denn die Selbstmotivation hochzuhalten bei andauernden Absagen und einem Mediensystem, das vor die Hunde geht und Hungerlöhne bezahlt, ist zermürbend. Vor allem aber soll sie oder er wissen: Um als freier Journalist überleben und professionell wachsen zu können, reichen Geschichten nicht aus, die einem seit Jahr und Tag unter den Nägeln brennen. Auch wenn ich selbst gerne ans Gegenteil glauben würde.

Leserbeiträge

pan. 22. September 2017, 10:44

Das man dieses tema nicht ohne emotionen behandeln kann, wenn man selber davon betroffen ist, ist klar. Trotzdem sollte man sich viel kürzer fassen, falls man davon träumt, das jemand bis zum schluss mitliest. Vom journalismus generell rate ich seit 40 jahren allen ab – denn es verträgt in diesem business nur diejenigen, die derart gern journalistIn werden, das sie auch dringendes abraten davon abhält. Das gilt natürlich noch viel mehr vom freien journalismus. Jemand, der nur freieR journalistIn wird, weil der job wegrationalisiert wird, sollte sich schleunigst eine andere arbeit suchen.

Doro Adrian 23. September 2017, 23:38

Ich habe den Text sehr gern gelesen, und bis zum Schluss. Danke dafür, so offen und ehrlich, nachdenklich und auch etwas traurig machend. Schön, wenn du weiter machst, Samuel.