Vielbegabung – oder: „Kann viel, aber nichts richtig!“ (Teil 1)
Was ist Vielbegabung überhaupt? Ein subjektiver und somit nichtwissenschaftlicher Erklärungsversuch.
Vielbegabung, auch Scanner(-Persönlichkeit) genannt, wird in vielen Fällen mit Hochbegabung in Verbindung gebracht. Innerhalb der Vielbegabung gibt es viele Ausprägungen, die von „Ausprobierer:innen über Unversalist:innen bis hin zur/zum Serienspezialist:in“ reichen. Die Unterschiede ergeben sich durch die jeweilige Intensität, mit der sich Vielbegabte mit einer Arbeit oder einem Projekt beschäftigen. Es gibt auch sogenannte „Taucher“, die ein Leben lang für eine Sache brennen bzw. sich damit intensiv beschäftigen.
Ihr merkt schon, das Thema ist eine komplexe Angelegenheit. Es kommt erschwerend hinzu, dass die verschiedenen Begriffe – Hochsensibilität, Hochsensitivität, Neurosensitivität – und die jeweiligen Ausprägungen, z. B. Scanner-Persönlichkeit / Vielbegabung, unterschiedlich definiert und interpretiert werden. Dabei handelt es sich bei Hochsensitivität, laut derzeitigem Stand der Wissenschaft, um Persönlichkeits- bzw. Charaktermerkmale und nicht um eine diagnostizierbare Krankheit. Trotzdem oder vielleicht deshalb – um der Komplexität des Themas noch die Krone aufzusetzen – wird Hochsensitivität, neben der Hochbegabung, auch mit den Themen Autismus und ADS /ADHS in Verbindung gebracht.
Alles klar?
Ich hoffe, die Wissenschaftler:innen können die Komplexität bald in Gänze aufschlüsseln.
Wie werden Vielbegabte von ihrem Umfeld wahrgenommen?
Für Vielbegabte ist es schon schwierig genug, mit ihrer Andersartigkeit umzugehen, denn vielfach wissen sie gar nicht um ihre Vielbegabung. Dann wird ihnen auch noch von außen gespiegelt, dass sie sprunghaft, unstet, unausgeglichen, unfokussiert, orientierungslos, unsicher, entscheidungsunfreudig, rastlos, unruhig, suchend, ungeduldig, chaotisch und vieles mehr sind.
Entscheide dich mal oder mach doch einmal was zu Ende, hören Vielbegabte oft.
Dabei neigen viele vielbegabte Menschen zu Schuldgefühlen, alleine nichts zu schaffen, dem Hochstaplersydrom, sind sehr selbstkritisch, hinterfragen oft Autoritäten und Hierarchien und können diese schwer respektieren. So verwundert es auch nicht, dass der Lebenslauf von vielbegabten Menschen häufig dem Parkour eines Tough-Mudder-Runs ähnelt.
So kommt es auch, dass Vielbegabte …
- meinen, dass sie nicht in diese Welt passen,
- nicht verstehen, weshalb sie sich ständig in Veränderungsprozessen befinden,
- sich oft unverstanden und ungehört fühlen,
- nicht selten unterschätzt werden,
- gerne mal als Verrückte/r, Spinner:in, Exentriker:in oder Rebell:in bezeichnet werden.
Diese sowie viele weitere Merkmale und Selbsteinschätzungen führen dazu, dass Vielbegabte in ihrem privaten und beruflichen Umfeld als anstrengend empfunden werden. Wenn zudem die Hochsensitivität sehr ausgeprägt ist, kommt es zu Reizüberflutungen, die den Vielbegabten zusetzen. So kann es zu schnellerer Ermüdung sowie mentaler und körperlicher Überforderung kommen.
Es ist für Vielbegabte wie ein Fluch, da sie angeblich nicht den beruflichen und gesellschaftlichen Normen entsprechen und dementsprechend häufig anecken. Sie fühlen sich in dieser Welt der Spezialist:innen einfach falsch. Dies gilt für introvertierte Vielbegabte oft noch mehr als für extrovertierte.
Anecken bedeutet auch, dass Vielbegabte oft an Grenzen stossen. Einerseits an ihre, wie oben bereits erwähnten, eigenen Grenzen wie z. B. Selbstkritik, Hochstaplersyndrom, nicht in diese Welt zu passen, Selbstakzeptanz, …
… doch viel häufiger sind es die Grenzen ihres Umfeldes, welche Vielbegabte schier zur Verzweiflung bringen können. Abgesehen von Autoritäten und Hierarchien, werden Vielbegabte von den Menschen in ihrem Umfeld in ihre Grenzen verwiesen, weil sie
- euren Gedankengängen (zu schnell und zu vielschichtig) nicht folgen können,
- Zusammenhänge nicht erkennen,
- Ideen, Innovationen und Problemlösungen skeptisch gegenüber stehen,
- Neues mit Totschlagargumenten verhindern: „Haben wir immer schon so gemacht“, „Die Anderen machen das auch so.“ und besonders ärgerlich: „Wir sind noch nicht soweit.“ und „Sie sind mit Ihrer Idee mindestens zwei Jahre früh.“
- Herausforderungen und Probleme nicht als solche erkennen. Gründe gibt es reichlich – rosa Unternehmensbrille, Position im Unternehmen, Unternehmenszugehörigkeit, Angst den Job zu verlieren bzw. überflüssig zu werden / zu sein (häufig beim mittleren Management zu sehen)…
- …
Es scheint so, als stimme der oben genannte Spruch, und mit vielbegabten Menschen könne man/frau im beruflichen Umfeld gar nicht zurecht kommen.
Doch das ist nur eine von drei Seiten der Medaille.
Kommen wir nun zum viel interessanteren und aus meiner Sicht wichtigeren Teil meines Beitrags.
Welche positiven Eigenschaften zeichnen Vielbegabte aus?
Ein Plädoyer an alle, sich dem Thema anzunähern.
Vielbegabte Menschen tragen viele wunderbare Eigenschaften in sich. Diese gilt es zu erkennen, zu fördern und zur Entfaltung zu bringen.
Voraussetzung ist, dass vielbegabte Menschen um ihre Vielbegabung wissen und sich selbst so akzeptieren wie sind, um dann ihre Begabungen und Fähigkeiten für sich und andere einsetzen zu können.
Hier ein kleiner Auszug aus den vielfältigen Begabungen und Fähigkeiten:
- Ausgeprägte Neugierde und Kreativität verbunden mit hoher Begeisterungsfähigkeit und sehr vielfältigen Interessen.
- Denken in größeren Zusammenhängen.
- Ausgeprägtes intuitives Denken, häufig verbunden mit der Fähigkeit zu lateralem und multiperspektivischem Denken.
- Schnelles Erkennen und Analysieren von Situationen, Stimmungen und Zusammenhängen inklusive schneller Lösungen.
- Ausgeprägte Intuition, Empathie und emotionale Intelligenz.
- Psychosoziale Feinwahrnehmung - Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen anderer Menschen werden leichter und detaillierter erkannt.
- Intensives, vielschichtiges und gleichzeitiges Empfinden, Erleben und Wahrnehmen von Situationen bei hoher Verarbeitungs- und Verknüpfungsdichte, was unter Umständen neue Wahrnehmungsbereiche, ungewöhnliche Zusammenhänge oder Sichtweisen erschließen kann und schnellere Lösungsfindungen ermöglicht.
- Hohe Eigenverantwortung, Wunsch nach Unabhängigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein, welches mit dem Wunsch nach eigenen Aufgabenfelder beim Arbeiten einhergeht.
- Sehr ausgeprägtes Langzeitgedächtnis.
- Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, starke Werteorientierung.
- Erbrachte Arbeit entspricht nicht selten dem Pensum von zwei oder drei Kolleg:innen.
- Querdenken und unkonventionelle Problemlösungen.
- …
Die oben genannten Merkmale sollen nur als ein erster Hinweis gesehen werden, ob vielleicht eine Vielbegabung in Betracht gezogen werden kann. Verschiedene Tests im Internet können zudem eine erste Orientierung bieten. Sollten die Merkmale und Testergebnisse auf eine mögliche Vielbegabung deuten, dann kann ich nur empfehlen, sich an eine/n Expert:in auf diesem Gebiet zu wenden und sich dort die Unterstützung zu holen.
Ich, selbst hochsensitiv im Kontext Scanner-Persönlichkeit, habe vorgenanntes selbst durchlebt. Erst im Alter von 46 Jahren wurde ich auf meine Hochsensitivität im Kontext Scanner-Persönlichkeit (Vielbegabung) aufmerksam gemacht. Mit Unterstützung einer Coachin habe ich daraufhin mein Leben analysiert. Ich lernte sehr viel über mich. Endlich konnte ich mich selbst und meine bis dahin als Unzulänglichkeiten erachtete Begabungen und Fähigkeiten akzeptieren. Es war kein Fluch mehr sondern ein Segen. Ein verborgener Schatz, der gehoben wurde und positive Energien für mich und mein Umfeld freisetzte.
Der für mich wichtigste Punkt dabei war und ist, das es nicht falsch ist, anders zu sein.
Und doch befinde ich mich in einem immerwährenden Prozess der Selbstannahme, denn auch heute beschleichen mich hin und wieder Selbstzweifel und Selbstkritik und ich stoße immer wieder an Grenzen. Wie mein bisheriges Berufsleben verlaufen ist, was es bedeutet, voll im Vielbegabten-Modus zu sein und an welche Grenzen ich gestossen bin und ab und zu stosse, erzähle ich euch demnächst hier ausführlich im 2. Teil von: Vielbegabung... oder: "Kann viel, aber nichts richtig!" (30 Berufsjahre im Leben eines Vielbegabten).
Aus meiner Sicht überwiegen die positiven Merkmale. Nun gilt es, eine grundlegende gesellschaftliche Akzeptanz zu erzielen, dass es Menschen gibt, die anders sind und diese Andersartigkeit genau richtig ist.
Was braucht es im beruflichen Kontext, damit Vielbegabte ihre Begabungen und Fähigkeiten einbringen können?
Neben dem Wissen um die eigene Vielbegabung und der Selbstakzeptanz, bedarf es seitens der Unternehmen spezielle Rahmenbedingungen, damit vielbegabte Menschen sich voll einbringen können. Dazu zählen Vertrauen, Zutrauen und Wertschätzung seitens des Managements - dies gilt übrigens für alle Menschen im Unternehmen-, ein ruhiges Arbeitsumfeld in Bezug auf Geräusche, spezielle Lichtverhältnisse, …, ansprechende Rückzugsmöglichkeiten, sehr flexible Arbeitszeiten, mehr Freiheiten in Bezug auf bzw. Befreiung von Standards, Normen, Konformität und Uniformität, Vorgaben…
Werden die Rahmenbedingungen vom Unternehmen bereit gestellt, dann „sprühen“ vielbegabte Menschen geradezu vor Ideen, Innovationen, Kreativität, Lösungsansätzen,… inspirieren ihr Umfeld und sind nicht mehr zu halten. Durch ihre schnelle Auffassungsgabe sind vielbegabte Menschen in der Lage, selbst komplexe Herausforderungen und Problemstellungen in kürzester Zeit zu erkennen, zu analysieren und Lösungen zu präsentieren. In solch herausfordernden Zeiten wie heute, kann dies zu einem echten Wettbewerbsvorteil werden und ich sehe schon die vor Freude glänzenden Augen der Führungsverantwortlichen, die sich jetzt auf die Suche nach vielbegabten Menschen machen. Einer rosigen Zukunft entgegensehend.
Mein Plädoyer ist angekommen. Doch bevor ihr, liebe Führungskräfte, nun in völlige Glückseligkeit abdriftet, seien folgende Hinweise gestattet:
- Geht in euch und fragt euch, ob ihr die Rahmenbedingungen schaffen wollt und diese auch beibehalten könnt. Sonst wird das nichts.
- Fragt euch ebenfalls, ob ihr echte Veränderungen wollt.
- Wenn nicht, dann tut ihr euch keinen Gefallen, Vielbegabte zu engagieren. Sie merken blitzschnell, ob sie eure Steigbügelhalter für Alibi-Veränderungen sind.
- Wenn ja, dann denkt daran, dass vielbegabte Menschen sehr viel Schwung mitbringen und sich dies auch auf die Unternehmensgeschwindigkeit auswirken wird. Vielleicht geht die nächste Runde auch rückwärts.
- Seid darauf gefasst, dass ein Engagement von vielbegabten Menschen zeitlich begrenzt sein kann.
- …
Welche Tipps kann ich euch vielbegabten Menschen geben?
- Geht offen mit eurer Hochsensitivität und Vielbegabung um, nur so erfährt euer Umfeld davon und kann damit besser umgehen.
- Lasst euch von denjenigen, die darüber lachen (ist mir mehrfach passiert) nicht von eurem Weg abbringen. Sie lachen, ob ihrer Unsicherheit gegenüber der Thematik.
- Vielbegabte in Festanstellung sollten für gute Rahmenbedingungen im Unternehmen sorgen. Sprecht mit einer Person eures Vertrauens im Unternehmen darüber, welche Änderungen möglich sind. Solltet ihr auf Widerstände stossen, sucht euch Verbündete. Es gibt mehr hochsensitive / vielbegabte Menschen, als ihr glaubt. Fruchtet das auch nicht, könnte ein Jobwechsel in Frage kommen. Denn Vielbegabte legen oft die Finger in die Unternehmenswunden und das mögen die Unternehmensverantwortlichen nicht. Doch es gibt bereits Unternehmen, die dahingehend offen sind, um die Thematik wissen und sich darauf einlassen, weil sie die positive Aspekte erkannt haben.
- Vielleicht ist für die/den ein/e oder andere/n die Selbständigkeit der passende Weg.
- Nehmt euch immer wieder Auszeiten. Diese sind wichtig, um in die Ruhe zu kommen und zu reflektieren, ob euch die derzeitige Situation gut tut.
- Sucht euch dafür die für euch passende Form der Auszeit bzw. Erholung. Die Möglichkeiten sind unzählig - Meditation, Yoga, Sport, Waldspaziergänge, … Sie sollten ohne Stress und Druck durchgeführt werden und euch einfach nur gut tun.
- Lasst euch auf eurem Weg – er hält trotz Selbstakzeptanz und positivem Mindset hin und wieder Hürden und Herausforderungen für euch bereit – von den Expert:innen / Coaches eurer Wahl begleiten und unterstützen.
- Nehmt bitte hin, dass euch Menschen nicht folgen können. Vielbegabte denken schneller und vielschichtiger, sehen Gesamtzusammenhänge deutlicher und sind oft ihrer Zeit voraus, weil die Vorstellungskraft für Ideen, Innovation und Problemlösungen eures Gegenübers nicht ausreicht, dass es funktioniert.
- Was mir, besonders in den vergangenen Jahren, sehr geholfen hat war, Plan B, C, D, E, und mindestens noch F in der beruflichen Tasche zu haben, um allen Eventualitäten gelassen begegnen zu können.
- …
- Sei mutig, sei authentisch: Sei DU selbst.
Wenn ihr weitere Informationen zu den Themen Vielbegabung und Hochsensitivität haben möchtet, so recherchiert bitte selbst im Internet zu o.g. Begriffen. Ich verzichte bewusst auf Verlinkungen, da Jede/r von euch selbst entscheiden soll, welche Tests und Informationen für euch die richtigen / passenden sind.
Ich freue mich auf euer Feedback.
Über mich
Ich berate und begleite verborgene Talente, hochsensitive und vielbegabte Menschen, Unternehmen, Organisationen und Institutionen zu „Talente und Potentiale entdecken - fördern - entfalten“ und „Durch Organisations-Counselor zum menschenzentrierten Unternehmen“. Manchmal habe ich auch verrückte Vertriebs- und Marketingideen für meine Kunden parat.
About the author
Insider for High Sensitiv Person (HSP), Vielbegabung, Talente + Potentiale, menschenzentrierte Unternehmen