Robotrecruiting, Matchingtools, Cultural-fit-Algorithmen, Interviewbots. Von künstlicher Intelligenz im digitalisierten Recruiting ist die Rede, und erste Studien zeigen, dass die Qualität der maschinellen Bewerberauswahl der einer menschlichen Entscheidung um nichts mehr nachsteht.
Doch für die meisten Bewerber ist es heute noch sehr befremdlich, gleich wenige Sekunden nach Hochladen ihrer Unterlagen die automatisch generierte Absage retour ins Postfach zu bekommen, vor dem ersten Kennenlernen einen Persönlichkeitstest beantworten zu müssen oder das erste Interview per Videochat mit einem Sprachcomputer zu führen. Ich frage mich hier: Wird der Recruiting- und Bewerbungsprozess immer unmenschlicher – oder gerechter?
Kürzlich leitete mir ein Klient die Eingangsbestätigung auf seine Bewerbung weiter und war entrüstet über die Unverschämtheit seines bis zu diesem Zeitpunkt noch Wunscharbeitgebers, denn er las: „Danke für Ihre Bewerbung. Wenn Sie nichts von uns hören, hat es nicht gepasst.“
Wie jetzt – nicht mal mehr eine Absage?! Ich konnte seine Verwunderung verstehen und frage mich, ob sich dieser Arbeitgeber Gedanken darüber macht, wie sich ein Bewerber fühlt, der viel Zeit und Gedanken in seine Bewerbung investiert hat und diese prophylaktische Absage erhält. Wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe sieht anders aus. Müsste es nicht vielmehr ein Fortschritt der Automatisierung sein, an jeden Bewerber nach entsprechenden HR-Entscheidungen im Laufe des Prozesses eine Absage zu senden und so Klarheit zu schaffen? Mit Kunden würden Unternehmen so nicht kommunizieren. Der besagte Bewerber schrieb mir am darauffolgenden Tag, er habe seine Bewerbung zurückgezogen.
Bewerber plappern stupide nach, was sie in der Stellenausschreibung lesen
Immer mehr Unternehmen setzen bei der Erstauswahl sogenannte Matching-Algorithmen ein. Das System wird mit Keywords und Bedingungen als Anforderungen an das ideale Kandidatenprofil gespeist. Die Unterlagen sowie Eingaben des Bewerbers werden daraufhin analysiert und abgeglichen. Wer viele Treffer erzielt, kommt eine Runde weiter, Bewerber mit niedrigem Matchingscore fliegen automatisch raus. Ich verstehe, dass Arbeitgeber ihre Recruitingprozesse effizient gestalten und insbesondere die Erstsichtung von Bewerbungen zeit- und ressourcenintensiv ist. Doch wenn Bewerber spitz bekommen, welche Keywords sie in ihr Anschreiben einbauen müssen, um vom System positiv bewertet zu werden, dann verkümmert ein bisher individuelles Bewerbungsschreiben zum Ratespiel um die beliebtesten Bullshit-Bingo-Begriffe.
Und so plappern gewiefte Bewerber heute schon stupide nach, was sie in der Stellenausschreibung lesen. Plötzlich sind sie alle teamfähig, belastbar und kundenorientiert. Hauptsache, dem Algorithmus gefällt es. Individualität und vor allem die persönliche Note einer Bewerbung gehen verloren. Und auch für Personaler wird es somit immer schwieriger, Kandidatenprofile voneinander zu unterscheiden und zu bewerten. Das ist der schleichende Tod des Anschreibens, den viele HR-Experten auch heute schon prophezeien. Denn längst sind sie gelangweilt von den gleichlautenden Worthülsen und nichtssagenden Floskeln und legen ihren Fokus vor allem auf die Zahlen, Daten und Fakten des Lebenslaufs. Doch reicht der Blick in die Vergangenheit eines Menschen aus, um im ersten Schritt die Passung und Eignung einer Zusammenarbeit in der Zukunft zu bewerten?
Matchingsysteme bieten nur ein vereinfachtes Abbild der Realität
Ist es die logische Konsequenz der Digitalisierung im HR-Bereich, dass die menschliche Entscheidungskompetenz bei zunehmender Automatisierung des Personalauswahlprozesses immer mehr verkümmert? Ist es gut und richtig, dass Bewerber zunehmend nach Analysen, Scores und Fits bewertet und ausgewählt werden, um so (unbewusste) Vorurteile der Personaler auszuschließen? Hat Müslüm dann die gleichen Chancen wie Michael? Ich bin noch skeptisch, schließlich sind die Modelle und Algorithmen in den Matchingsystemen auch nur ein vereinfachtes Abbild der Realität. Es ist ein Leichtes, das Höchstalter potenzieller Kandidaten für eine Position auf 45 Jahre zu begrenzen – auch wenn es kein Unternehmen zugeben würde – und nach Auswertung des Geburtsdatums an alle Kandidaten mit „Alter > 45“ automatisch die Absagemail zu schicken. An andere (geheime) Auswahlkriterien mag ich gar nicht denken.
Zudem bezweifle ich, dass Personaler und Führungskräfte in den Fachbereichen exakt wissen, wen sie wirklich suchen. Vielleicht existiert die Vorstellung des Idealkandidaten mit Berufserfahrung in der gleichen Branche im Alter zwischen 30 und 40 sowie mit betriebswirtschaftlicher Ausbildung. Doch wer weiß, ob nicht der 41-jährige Quereinsteiger und Physiker, den bisher niemand auf dem Schirm hatte, noch viel besser für die zu besetzende Position geeignet ist?
Es ist unglaubwürdig, wenn sich Arbeitgeber Diversitykultur und gleiche Chancen für Quereinsteiger für ein glänzendes Employerbranding auf die Fahnen schreiben, jedoch gleichzeitig Bewerber mit krummen Lebensläufen nicht „matchen“ und sie automatisiert vom System aussortiert werden.
Digitalisierung im Recruiting darf den Menschen hinter Datensätzen nicht vergessen
Ist es zeitgemäß, Kandidaten auf Basis von Onlinetests in Raster zu stecken? Ist es wichtig, dass neue Mitarbeiter einen passenden „cultural fit“ aufweisen? Müssen Kandidaten vor dem ersten persönlichen Kontakt durchleuchtet und analysiert werden? Was unterstützt tatsächlich die (menschliche) Auswahlentscheidung, was dient der Effizienz im Recruitingprozess, und was sind schlichtweg unsinnige Technikspielchen zur Erzeugung von Pseudowahrheiten?
Die Gefahr im Hype der Digitalisierung ist groß, dass Arbeitgeber und ihre Recruiter ihren Blick stark einengen und sie unter dem Deckmäntelchen von Neutralität, Effizienz und Qualität vor allem auf „systematische“ Passung vertrauen, statt auf Offenheit, kreativen Weitblick und ihre menschliche Entscheidungskompetenz. Trotz Digitalisierung werden auch in Zukunft Menschen mit Menschen arbeiten – sogar noch intensiver als je zuvor. Soft Skills und persönliche Talente werden für gute Zusammenarbeit in der Arbeitswelt 4.0 mehr zählen als Noten, Zertifikate und Fachwissen.
Gerechtigkeit durch Objektivität bei der Bewerberauswahl ist wichtig, hier kann Technik durchaus einen Beitrag leisten. Ebenso bietet die Digitalisierung viele neue Möglichkeiten bei der Arbeitgeber-Bewerber-Kommunikation. Doch Bewerber bleiben Menschen – mit Persönlichkeit, Emotionen sowie Ecken und Kanten. Digitalisierung im Recruiting darf den Menschen hinter einem Datensatz nicht vergessen, sondern sollte dabei unterstützen, dass sich Arbeitgeber und Bewerber in Zukunft besser finden. Was ist Ihre Meinung – als Bewerber oder Recruiter?
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