Losverfahren – Die bessere Demokratie?

Bürger fühlen sich unverstanden oder übergangen: Um Politiker und die Bevölkerung zu versöhnen, testen Kommunen neue Arten der Mitbestimmung. Bietet das Losverfahren der Demokratie eine neue Chance?

Prof. Dr. Christiane Bender
  • Bürgerinnen und Bürger verlieren immer mehr das Vertrauen in die Politik
  • Es gilt nun, ihre Stimmen ungefiltert zu hören und das auch im Bundestag
  • Der unschlagbar demokratische Vorteil des Losverfahrens: Chancengleichheit

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Der repräsentativen Demokratie verdanken die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine Politik der ökonomischen und sozialen Stabilität, des Interessenausgleichs und der Freiheit. Die Parteien, hierzulande tragende Säulen der politischen Bildung sowie der Organisation und Durchsetzung der Interessen der Bürger, konnten sich über Jahrzehnte auf eine vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung stützen. Extreme Positionen blieben chancenlos. Mit großer Zustimmung seitens der Bevölkerung wurden riskante Projekte wie die Europäische Integration in Angriff genommen und die Wiedervereinigung erfolgreich realisiert. Seit den 90er-Jahren werden sie jedoch ihrer Aufgabe, den Bürgerwillen zu repräsentieren, immer weniger gerecht. Auch die Volksparteien haben die Verankerung in der Alltagspraxis der Menschen, die sie vertreten sollen, verloren. Ihr Personal und deren Politik erscheinen gleichermaßen erfahrungsarm wie visionslos, ohne tiefere Überzeugungskraft. Vor dem Hintergrund weltweiter Krisen ist eine solche Situation nicht ungefährlich für die Demokratie. Darauf reagiert derzeit eine pauschale Kritik an der politischen Klasse, medial geschliffen von ebenso „abgehobenen“ Eliten vorgebracht, die Morgenluft für ihre eigenen Karriereinteressen wittern. So kommen wir nicht weiter! Wir brauchen ungefilterte Stimmen von Bürgerinnen und Bürgern , auch im Bundestag!

Das Losverfahren könnte die Wahlen ergänzen

Wie erreichen wir das? Gewinnen wir Menschen von der Basis der Gesellschaft für die Politik, wenn das Los über die Besetzung von Abgeordnetenpositionen entscheidet? Freie Wahlen machen nach zwei Diktaturen auf deutschem Boden das unverzichtbare und verfassungsmäßig geschützte Wesen unserer Demokratie aus. Für das Auslosen spricht jedoch seit alters her ein unschlagbar demokratischer Vorteil: die Gleichheit der Chancen für alle Teilnehmer, ob reich, arm, männlich, weiblich, jung, alt, gesund oder krank. Wenn der Zufall das Ergebnis bestimmt, dann bleibt kein Raum für die Manipulation durch ökonomisch, sozial oder medial mächtige Individuen oder Organisationen – vorausgesetzt, das Losverfahren wird ordnungsgemäß durchgeführt wie etwa die Fernsehlotterie, der Millionen Zuschauer gespannt folgen. Außerdem macht das Auslosen politischer Positionen ein zutiefst demokratisches Ideal erfahrbar: Bürger und Politiker stehen sich nicht nur gegenüber, sondern in der Demokratie können und müssen sie ihre Seiten miteinander tauschen. Aber kann es ohne Revolution im Deutschen Bundestag Abgeordnete geben, die ihre Stellung keiner Wahl verdanken, sondern dem Losverfahren? Ja, zwar nur begrenzt, dafür aber in hervorgehobener Funktion.

Hans Graßl von der Universität Siegen und ich haben einen kühnen Plan ausgearbeitet, Wahlen durch Losen zu ergänzen: Jeder wahlberechtigte Bürger erhält am Wahltag zusätzlich zum Wahlschein eine Losnummer. Abends werden nicht nur die Wahlergebnisse, sondern auch die ausgelosten Nummern bekannt gegeben. Ein Medienereignis erster Güte! Die Inhaber der ausgelosten Nummern erhalten, falls sie einwilligen und nach verfassungsrechtlicher Überprüfung nichts gegen sie vorliegt, jeweils einen von insgesamt fünf Prozent der parlamentarischen, momentan circa 30 Sitze. Die Losabgeordneten haben zwar für ihre Tätigkeit im Bundestag gemäß Art. 38 GG kein Abstimmungsrecht, dafür aber Rederecht und die Möglichkeit, wichtige parlamentarische Funktionen zu übernehmen. Außerdem erhalten die Losabgeordneten, den gewählten Abgeordneten hierin gleichgestellt, Bezüge und einen professionellen Beraterstab. Während der parlamentarischen Debatten rücken sie mit ihren Stellungnahmen in den Fokus der Öffentlichkeit. Sie werden die Fantasie vieler Menschen beflügeln, sich vorzustellen, möglicherweise in der nächsten Legislaturperiode ebenfalls einen solchen Platz einzunehmen. Sie haben die große Chance, Erfahrungen aus ihrer Alltagspraxis geltend zu machen, die bislang kaum Gehör fanden. Ob sie den Politikbetrieb „aufmischen“? Oder die Neugier der Bürger wecken, die Regierungsgeschäfte zu durchschauen? Mit Sicherheit werden die Losabgeordneten als Brückenbauer zwischen den politischen Eliten und der gesellschaftlichen Basis fungieren. Unserer Demokratie geben sie so die verloren gegangene Bürgernähe zurück.

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Prof. Dr. Christiane Bender
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Prof. Dr. Christiane Bender

Professorin für Soziologie, Helmut-Schmidt-Universität

Die Professorin für Soziologie ist an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg tätig. Seit ihrer Zeit am Max-Weber-Institut der Universität Heidelberg fühlt sie sich der Heidelberger Soziologie zugehörig, der es um die Erforschung von Ideen, Interessen und Institutionen der gesellschaftlichen Ordnung und des Wandels geht. Die Krise der repräsentativen Demokratie hängt nach Benders Auffassung zusammen mit dem geringen Verständnis der politischen Klasse für die Gesellschaft, in der sie lebt.

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