Digitale Transformation: Wieso verläuft die Digitalisierung so mühsam?

Die digitale Transformation ist für viele Unternehmen Schrecken und Chance zugleich. An allen Enden versuchen Firmen sie umzusetzen, der Erfolg ist aber nicht immer garantiert.

Die Gefahr für Marken liegt in der Beliebigkeit

Christian Rätsch
  • Dank der Digitalisierung kommen sich Firmen und Kunden so nahe wie noch nie
  • Der Reiz ist groß, Märkte durch Penetration und Automatisierung zu erobern
  • Eine Überlebenschance hat nur, wer Firmenmarke und -werte gewissenhaft pflegt

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Um es vorwegzunehmen: Ich bin ein Fan der Digitalisierung. Wie viele Unternehmensverantwortliche teile ich den Optimismus und sehe die Chancen in neuen Technologien. Doch wie immer bedarf es eines näheren Blicks, wenn jedermann von einem Trend spricht und blindes Vertrauen in die Allmacht der Digitalisierung die Runde macht.

Auf der einen Seite haben Unternehmen heute durch Technologie die Chance, zu ihren Kunden eine völlig neue Beziehung aufzubauen. Einer neuen Nähe gleich verbinden sich Markenhersteller mit ihren Kunden. Aus anonymer Werbung wird direkte Interaktion, aus Inhalten wird Konversation, aus der allgemeinen Ansprache wird eine spezifische, und Produkte für die breite Masse werden auf individuelle Kundenbedürfnisse zugeschnitten. Marketer frönen der Automatisierung, und das Managen der Customer-Journey, also der Reise des Kunden vom ersten Kontakt mit dem Produkt bis hin zum Kauf, wird zum Gral der Marketingabteilungen. Schließlich leben Kunden heute digitaler denn je und erwarten die richtige Botschaft auf dem richtigen Kanal zur richtigen Zeit. So weit, so gut und in aller Munde.

Zersplitterte Verantwortlichkeiten schwächen die Marke

Doch die Gefahr, insbesondere für Marken, liegt in der Gier und in der Rollenverteilung der Kompetenzen in den Unternehmen. Konnte der oberste Wächter einer Marke vor der digitalen Revolution die Selbstähnlichkeit seiner Marke über die wesentlichen Kommunikationsmöglichkeiten beeinflussen oder durch Breitenkommunikation steuern, geht das heute nicht mehr so einfach. In Zeiten, in denen es nahezu überall Kontaktpunkte zu Kunden gibt und damit einhergehend fragmentierte Zuständigkeiten, wird die Markenverantwortung zusehends geschwächt.

Zu verständlich ist die Position des Vertriebs, der alle digitalen Mittel ausschöpft, um seine Leistung bei jedermann zu vermarkten. Zu verlockend ist es für Vermarkter, Kunden Botschaften zuzuspielen, die diesen quasi nach dem Mund reden. Und warum sollen Unternehmen überhaupt noch Produkte produzieren, für die sie den Markt erst entwickeln und suchen müssen? Umgedreht scheint doch ein Schuh daraus zu werden: In einer völlig flexibilisierten und automatisierten Welt kann ein Unternehmen genau zu dem Zeitpunkt das spezielle Produkt herstellen, welches sich der Kunde wünscht. Warum sollten sich Verantwortliche bei den grenzenlosen Möglichkeiten limitieren und dem Diktat einer Marke und ihrer Identität unterwerfen? Sind die Zeiten von Markenkonformität nicht überholt? Meine Antwort auf diese Frage lautet: Nein.

Nur echte und einzigartige Markenwerte führen zum Erfolg

Digitaler Opportunismus ist nur ein Wert auf Zeit. Gerade weil alle digitalen Strategiemodelle auf Nullen und Einsen basieren, sind sie kopierbar. Endkunden mögen sich kurzfristig durch eine scheinbar passgenaue Ansprache zum Kauf verlocken lassen, langfristig binden sie sich aber an wahrhaftige Werte. Erfolgreiche Marken müssen daher aus ihrer Substanz heraus überzeugen, statt automatisiert zu überreden. Markenführung heißt immer Verzicht – wer für alles steht, ist beliebig und steht für nichts. Die große Gefahr liegt in der Austauschbarkeit und damit einhergehend im Verlust des Wettbewerbsvorteils und des Preispremiums.

Wir brauchen bei allen digitalen Möglichkeiten eine neue Allianz in den Unternehmen, die sich die eigene Identität klar vor Augen führt, sich zu ihr bekennt und sie als Handlungsmaxime begreift. Gerade in zunehmend digitalisierten Kundenbeziehungen ist es wichtig, für eindeutige Werte zu stehen und klare Identifikationsmerkmale zu hinterlassen. Algorithmen suchen nach Gemeinsamkeiten, nach der Übereinstimmung von Interessen, Präferenzen und Motivationen. Schlüsselbegriffe (Keywords) und eindeutige Profile sind notwendige Voraussetzung, damit Menschen sich Marken anschließen können. Nur so entfaltet die Marke ihr wahres Bewegungspotenzial, indem sie von ihren Fans im Netz getragen und empfohlen wird.

Fazit: Die Digitalisierung ermöglicht es, dass Unternehmen und ihre Kunden nur noch einen Klick auseinander liegen. Die Verlockung ist groß, den Markt durch digitale Penetration zu erobern und sich Kunden automatisiert anzubieten. Doch das Risiko ist höher, die eigene Identität und damit das Bindungspotenzial der Marke zu verspielen. Gerade weil das Netz Vergleichbarkeit herstellt, wird die Marke zum zentralen Kapital von Unternehmen. Dieses gilt es auszubauen und systematisch zu pflegen. So verstanden, ist digitale Marktbearbeitung ein effizienter Kommunikationsturbo, der sich aber der Marke unterordnen muss.

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Christian Rätsch
© Saatchi & Saatchi
Christian Rätsch

CEO, Saatchi & Saatchi Deutschland

Christian Rätsch ist seit fünf Jahren CEO von Saatchi & Saatchi Deutschland. In früheren Stationen verantwortete er als CMO der T-Systems und Leiter Marketing der Telekom Deutschland das Go-to-Market. In der Strategieberatung BBDO Consulting betreute er als Senior Manager diverse internationale Blue-Chip-Kunden. Mit großer Leidenschaft beschäftigt er sich mit dem Thema Digitalisierung und schreibt dazu regelmäßig Beiträge auf seinem Blog (christianraetsch.de) und diversen Social-Media-Kanälen.

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