Aufbruch ins Ungewisse: Sollte man jetzt digitaler Nomade werden?

Den Strand zum Büro machen: Das digitale Nomadentum verspricht, Karriere und Freiheit miteinander zu versöhnen. Wie realistisch ist das? Was spricht für oder gegen ein Arbeitsleben unterwegs?

Die Nomadenphilosophie ist zum Verkaufsschlager mutiert

Mag. Dr. Martina Kainz
  • Um das Nomadentum ist ein Trend entstanden, an dem viele gut verdienen
  • Er impliziert, dass Arbeit Spaß machen muss – das ist Glücksterror
  • Angehende Nomaden sollten sich vorher unbedingt einige Fragen stellen

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Auf die Frage eines seiner Schüler, ob es für ihn gut sei, eine weite Reise zu machen, soll Laotse geantwortet haben: „Lass ab davon, in der ganzen Welt ist es wie hier.“ Was treibt also – wider den Rat großer Denker – neuerdings ganze Heerscharen von jungen, technikaffinen Selbstständigen in die Welt hinaus, nicht um an den malerischsten Orten der Erde Urlaub zu machen, sondern um dort zu arbeiten? Und wer beflügelt – mit bisweilen dubiosen Versprechungen und utopischen Bildern – diejenigen, die sich als digitale Nomaden auf den Weg machen?

Nomadenlifestyle: verkaufte Mythen und Utopien

Bei der jährlichen Digital-Nomad-Konferenz in Berlin, die sich über nahezu 1500 (zahlende) Teilnehmer freuen kann, wird klar, dass es bei dieser Veranstaltung weniger um Informationen über das Leben als digitaler Nomade als um die Vermittlung eines Lifestyles geht. Und auch wenn bei der Konferenz „Fuck Kohle, für mich ist Erfolg etwas anderes“ gepredigt wird: Die Tickets kosten zwischen 147 und 999 Euro.


Warum ihn das Leben als digitaler Nomade glücklich macht, beschreibt unser Autor Sven Lechtleitner. Zu seinem Artikel gelangen Sie hier.


Das Konferenzprogramm der DNX zeichnet sich durch einen nicht unbeträchtlichen Part an manipulatorisch anmutenden Veranstaltungen aus, die die eigentlichen Maximen der Nomaden, nämlich Freiheit, Individualität und Autonomie, ad absurdum führen. So kommt es schon mal vor, dass eine Reisebloggerin während ihres Vortrags auf der DNX verspricht, den angehenden Nomaden unter anderem beizubringen, wie sie ihren „geilsten, perfekten Tag inklusive sicherer Kohle auf dem Konto leben. Jeden Tag“. Dazu gehört Mut. Und eine Zuhörerschaft, die jene Utopien und Mythen, die mit der Idee des digitalen Nomadentums mitverkauft werden, willig annimmt, um dem grauen europäischen Alltag zu entfliehen.

Vom Zwang, ein glückliches Leben führen zu müssen

Auch wenn die Arbeitsformen des digitalen Nomadentums Freiheit, Spaß und das Ungebundensein abseits ökonomischer Zwänge verheißen, wird die Bindung an kapitalistische Strukturen deutlich sichtbar: an Gurus, die die Nomadenphilosophie als Marketingmodell teuer verkaufen, oder daran, dass – abgesehen von der ökologischen Problematik zahlreicher Langstreckenflüge – den angehenden Nomaden gleichzeitig unzählige Dienstleistungen und Waren mit auf die Reise gegeben werden: von Kreditkarten, Versicherungen („The world’s first insurance for nomads“) über Bücher, „Freiheitspakete“ und Crashkurse für digitale Nomaden bis hin zu Yogamatten.

Aber noch beklemmender ist das Faktum, dass als weitere Facette des gegenwärtigen Glücksterrors die Arbeitsform des digitalen Nomadentums auch die Forderung impliziert, dass Erwerbsarbeit vor allem Spaß zu machen und uneingeschränktes Glück zu bedeuten habe. Ein Anspruch, der den Druck zur Selbstoptimierung und den Zwang, ein glückliches Leben führen zu müssen, weiter erhöht, ganz nach dem Motto: Wem es schlecht geht, der ist selber schuld.

Von Datenschutz bis Steuerpflicht - viele ungeklärte Fragen

Darüber hinaus ergibt sich durch diese Arbeitsform auch eine ganze Reihe (arbeits-)rechtlicher Fragen, die durchaus noch einer Klärung bedürfen.

Zum einen ist es die gesamte Datenschutzproblematik, die in der mangelnden Sicherheit der überwiegend genutzten WLAN-Netze, vor allem hinsichtlich der Zugänglichkeit zu Informationen durch Dritte zu Daten, Firmengeheimnissen und einem mangelnden Datenschutz von Kunden, zu orten ist. Zum anderen ist es das Thema der Besteuerung und Versicherungen, denn selbst wenn „deine Steuerfreiheit nur ein paar Minuten entfernt ist“ (https://www.staatenlos.ch/), so stellt sich doch die Frage, wie viel Geld digitale Nomaden für Informationen, Beratungsleistungen oder andere Services auslegen müssen, um das Leben in Steueroasen oder gar als Staatenlose überhaupt einmal beginnen zu können.

Der jungen Generation sei ein gutes und ungebundenes Leben im Backpackmodus an den schönsten Orten der Welt von Herzen gegönnt. Jedoch sollte bei allen Phänomenen, die auf den ersten Blick so verheißungsvoll erscheinen und präsentiert werden, ein zweiter, ein dritter und insbesondere ein rationaler Blick riskiert werden, um nicht der Illusion zu erliegen, man könne rund um den Globus und rund um die Uhr ein sorgenfreies, autonomes und zudem noch finanziell einträgliches Leben führen.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser! Könnten Sie sich das Leben als digitaler Nomade auch gut vorstellen? Oder sehen Sie den Trend zum grenzenlosen Arbeiten eher kritisch? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!

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Mag. Dr. Martina Kainz
© Martina Kainz
Mag. Dr. Martina Kainz

Medienexpertin und Autorin

Martina Kainz (Jg. 1958) promovierte in Philosophie und arbeitet als Referentin der Fachstelle für Suchtprävention NÖ (ein Kompetenzzentrum für Suchtarbeit und Sexualpädagogik in Niederösterreich) sowie unter anderem für die Pädagogische Hochschule Baden im Fachbereich Medienkompetenz. Sie schrieb zwei Bücher: „24h online – Verloren in sozialen Netzwerken?“ und „Globale Vernetzung – globale Identität? Kulturelle Identitätskonstruktionen im Zeitalter digitaler Technologien“.

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