Ich habe in jüngster Zeit viel gekocht: Lachs auf Erbsenpüree, Lammkeulen, Bouillabaisse, Heilbutt mit glasierten Möhrchen. Ich habe Kimchi eingelegt und Zimtschnecken und Brot gebacken. Ich habe mich endlich an komplizierte Fischgerichte herangetraut. Das mag als erste Beobachtung aus dem Coronakrisengebiet China etwas seltsam klingen, aber am Leben im Ausnahmezustand ist nicht alles belastend oder schlecht. Seit Monaten dominiert SARS-CoV-2 hier in Shanghai unseren Alltag. Auch wenn sich die Situation inzwischen langsam entspannt – gerade in Krisenzeiten treten plötzlich viele positive menschliche Eigenschaften zutage: Kreativität, Geschäftssinn, Tüchtigkeit, Solidarität.
Das ist die eine Lehre, die ich aus dem Leben im täglichen Ausnahmezustand in den vergangenen Monaten gezogen habe. Zur schlechten Erfahrung komme ich später. Ich habe die Zeit, in der das öffentliche Leben in dieser Millionenstadt so gut wie stillstand, genutzt, um meine Kochkünste zu verfeinern. Und um mich weiterzubilden. Meine erste Botschaft an alle, auf die jetzt ähnliche Zeiten zukommen mögen, wie wir sie in China durchlebt haben: Geraten Sie nicht in Panik.
Ich bin Schwede und lebe seit 20 Jahren in China. Als ich zum ersten Mal von dem neuartigen Virus hörte, musste ich sofort an den Ausbruch von SARS im Jahr 2003 denken. Nur langsam drangen damals die von der chinesischen Regierung gefilterten Informationen über die Ausbreitung der Atemwegserkrankung zu uns durch. Wir hatten Angst und waren unsicher, was überhaupt gerade geschieht. Das Kommunikationsmittel der Stunde damals waren SMS. Irgendwann schrieb mir jemand, wir sollten schnell einkaufen gehen, die Läden würden geplündert. Ich wollte das nicht glauben und blieb im Büro. Als ich nach der Arbeit in den Supermarkt ging, waren die Regale leer. Es herrschte Chaos.
Die Supermärkte blieben gut gefüllt
2020 ist alles anders. Die Menschen hier starren ständig, Gesichtsmasken vor dem Mund, auf ihre Handys. Das Internet funktioniert überall recht gut. Man kommt an Informationen heran. Am Anfang haben die Behörden in Wuhan, wo alles begann, nicht ganz so entschlossen reagiert, wie es angebracht wäre. Sobald die Sache an die Zentralregierung hoch eskaliert wurde, hat China aber vergleichsweise gute Arbeit geleistet, die Verbreitung des Virus einzudämmen. Es gab kaum Engpässe. Die Supermärkte, die offen blieben, waren gut gefüllt. Kaum jemand hat sich hier wie in Australien um Klopapier geprügelt. Das hat natürlich auch viel damit zu tun, dass es in China leichter ist, Sofortmaßnahmen durchzudrücken. Die Menschen gehorchen neuen Regularien. Das heißt nicht, dass sie sie nicht hinterfragen würden.
Risikobewertung mit QR-Code und Big Data
Meiner Meinung nach befindet sich China mit der Coronaviruskrise an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Ausbreitung des Erregers ist auch deshalb relativ unter Kontrolle, weil die Regierung neue Technologien, wie künstliche Intelligenz oder Big-Data-Analyse, noch breiter und gezielter eingesetzt hat, als es hier ohnehin schon üblich ist. Dass hier jeder stets online ist und Apps wie WeChat für die Steuerung des gesamten täglichen Lebens nutzt, vor allem für das mobile Bezahlen, gibt den Behörden längst Zugang zu vielen persönlichen Daten.
Wer derzeit etwa große Einkaufszentren betreten will, muss einen QR-Code auf seinem Handy vor ein Lesegerät halten. Die Daten darauf werden ausgewertet. Leuchtet es Grün auf, bedeutet dies: Man wurde weder positiv getestet, noch war man in den vergangenen zwei Wochen außerhalb von Shanghai unterwegs. Die Infos sind alle gespeichert, und man darf hinein. Leuchtet es Orange, hat man sich etwa in den vergangenen zwei Wochen aus der Stadt hinaus bewegt. Rot heißt, dass man positiv auf den Virus getestet wurde oder Kontakt zu Infizierten hatte. Zugang verwehrt.
Ähnliche Kontrollen gibt es auch, wenn man Wohnkomplexe in der Stadt oder Behörden betreten möchte. In kleinen Läden wird per App Fieber gemessen und man muss seine Handynummer in eine Liste eintragen. Unsere Putzfrau kommt bei vielen ihrer Kunden derzeit nicht in die Gebäude hinein, da sie während des chinesischen Neujahrsfestes nach Hause gefahren war. Die Chinesen lernen gerade, dass die Vorteile der ständigen Überwachung in einer Krise, wie wir sie gerade durchleben, die Nachteile, etwa ihre Privatsphäre aufzugeben, gesamtgesellschaftlich überwiegen. Gibt es, wenn sich alles wieder beruhigt, für China überhaupt noch einen Weg zurück?
Lesen Sie endlich die Bücher, die sich auf dem Nachttisch stapeln
Das Leben im täglichen Ausnahmezustand lässt sich grob gesagt in zwei Sphären aufteilen: das private Leben und das Berufsleben. Privat habe ich auf Einiges verzichten müssen. Ich liebe Musik und Konzerte, es gibt aber keine Livemusik mehr. Ich lechze förmlich danach. Ich gehe trotzdem viel raus an die frische Luft, mache lange Spaziergänge. Ich jogge jeden Tag. Seltsamerweise fühle ich mich im Moment gesundheitlich so gut wie lange nicht.
Nutzen auch Sie die Zeit, wenn das öffentliche Leben stillstehen sollte, für sich. Lesen Sie endlich die Bücher, die sich unberührt auf Ihrem Nachtkästchen stapeln. Schauen Sie sich auf Netflix den Film an, den Sie seit Ihrer Jugend nicht mehr gesehen haben oder den Blockbuster, den Sie im Kino verpasst haben. Meine Frau und ich haben an einem Tag einen Quentin-Tarantino-Marathon hingelegt. Verbringen Sie die Zeit mit Ihrer Familie. Erledigen Sie die Dinge, die Sie vor sich herschieben. Die Chinesen sind eine Nation, die unglaublich gern lernt. Online-Weiterbildungskurse boomen hier wie nie zuvor. Sicher gibt es solche Kurse auch in Deutschland.
Wenn ich nach draußen gehe, hängt immer eine Gesichtsmaske um meinen Hals. Der Mundschutz gehörte in Asien schon lange vor dem Ausbruch zur sozialen Norm. In Europa sind die Masken ausverkauft, habe ich gelesen. Sicher gibt es andere Anweisungen, wie Sie sich in diesen Zeiten richtig verhalten sollen. Halten Sie sich daran. Eine Maske zu tragen gilt hier nicht als Zeichen der Schwäche, sonders als Akt der Solidarität und dass man Respekt für den anderen zeigt. Zeigen auch Sie Respekt gegenüber Ihren Mitmenschen, auch wenn Sie dafür vielleicht neue soziale Normen akzeptieren müssen. Diese Zeit, das erleben wir gerade in China, geht ja auch wieder vorbei. Vor allem aber: Hören Sie auf Wissenschaftler und nicht auf Spinner und Verschwörungstheoretiker im Netz.
Viele kleine und mittlere Betriebe haben sich schon angepasst
Den Fisch zum Kochen habe ich übrigens bei einem Bekannten gekauft. Das bringt mich zum Berufsleben. Mein Bekannter importiert nordischen Fisch nach China. Als plötzlich alles lahmgelegt wurde, die Bestellungen von Restaurants, Hotelketten und anderen Kunden einbrachen, saß er auf 50 Tonnen Ware. Wir haben uns in WeChat-Gruppen organsiert, inzwischen gibt es mehrere davon mit der maximalen Teilnehmerzahl von 500. Mein Bekannter verkauft seinen Fisch nun an kleinere Abnehmer. In einer kleinen Gruppe haben wir uns 50 Kilo Heilbutt, Kabeljau und Hummer aufgeteilt und eingefroren.
Viele Restaurants spezialisieren sich nun auf das Ausliefern von Essen. Viele davon haben schon vor dem Ausbruch Essen ausgeliefert. Nun konzentrieren sie sich voll auf dieses Geschäft, während Tische und Stühle im Laden selbst versiegelt waren. Die Lieferbranche läuft ohnehin gut in China, nun erlebt sie ihre goldene Zeit. Man kann sich sogar wohl temperierten Rotwein per App bestellen und nach Hause liefern lassen. Die Chinesen zeigen sehr viel Improvisationstalent und Anpassungsfähigkeit, damit ihr Geschäft in diesen Zeiten irgendwie weiterläuft. China ist innovativ und einfallsreich, das zeigt sich gerade sehr deutlich. Natürlich wird die Regierung einen umfassenden wirtschaftlichen Stimulus-Plan aufstellen und unterstützt auch jetzt schon, damit der soziale Frieden hält. Anders, als es vielleicht im Westen wahrgenommen wird, wird diese Krise das gesellschaftliche Gesamtsystem meiner Meinung nach nicht durcheinanderwirbeln.
In China läuft gerade das größte Homeoffice-Experiment der Geschichte
Viele Menschen in den Städten arbeiten, anders als die Fabrikarbeiter natürlich, von zu Hause aus. Damit läuft in China das weltweit wahrscheinlich größte Homeoffice-Experiment der Geschichte. Für mich ist dieser Versuch bisher ganz gut verlaufen – aber auch nicht mehr. Mit Laptop und Highspeedinternet in der Komfortzone der eigenen vier Wände zu arbeiten und sich dazu ständig das leckerste Essen der Welt liefern zu lassen oder selbst zu kochen – meine Frau und ich haben viele Witze darüber gemacht, dass wir ein Luxusproblem haben.
Mein Chef ist nach dem chinesischen Neujahrsfest im Januar mit der Familie in Thailand geblieben, wir kommunizieren seither online über WeChat oder wir telefonieren. Doch diese Heimeligkeit fühlt sich für mich oft auch ganz schön ungemütlich an. Ich vermisse es, ins nächste Zimmer zu gehen und mit Kolleginnen und Kollegen eine neue Idee auszudiskutieren. Mir fehlt schlicht der menschliche Kontakt, anderen ins Gesicht schauen zu können. Homeoffice mag daher schön klingen, nach viel Freiheit. Das gilt wohl nur so lange, wie man die Wahl dazu hat. Und zur Wahrheit gehört auch: Wenn Geschäftspartner oder Kunden nicht mehr so gut erreichbar sind, kann man selbst noch so gut ausgerüstet sein: Es gibt einfach weniger zu tun.
Wir sind im Live-Musik- und Eventmanagement tätig. Den Rest können Sie sich denken. Wir haben im Führungsteam eine gute Methode gefunden, wie wir dennoch weiter und regelmäßig mit allen zusammenkommen: Teamleiter geben online regelmäßig Trainings- und Weiterbildungsstunden. Wir teilen oft unsere Erfahrungen und Befindlichkeiten. So nutzen wir die Zeit produktiv und gemeinsam. Wenn das normale Leben wieder beginnt, ist jeder auf dem neuesten Stand. Probieren Sie einfach aus, wie sich Homeoffice für Sie anfühlt, sollten Sie dazu gezwungen sein. Auch hier gilt: Machen Sie das Beste draus.
Meine Frau und ich haben bisher Glück gehabt. Niemand von uns oder unserer Familie ist krank geworden. Die Eltern meiner Frau konnten rechtzeitig zurück nach Hause in die Stadt Qingdao fliegen. Wir haben sie, als die ersten Nachrichten über Reiseeinschränkungen in den Ferien im Januar aufkamen, sofort ins Flugzeug gesetzt. Sonst wären sie vielleicht für Monate hier bei uns gestrandet. Keiner von uns musste bisher in ein Krankenhaus. Darüber sind wir glücklich und dankbar.
Meine Frau und ich sind vor Kurzem umgezogen, in ein lebhafteres Viertel. Als neulich die ersten Bars und Restaurants in unserem neuen Revier wieder öffneten, haben wir uns unsere Gesichtsmasken und Laptops geschnappt, sind nach unten gegangen und haben uns ins nächste Café zum Arbeiten gesetzt. Wir waren nicht allein.
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