Puzzle oder Notebook – Wie früh sollten wir Kinder digital erziehen?

Für viele Kinder beginnt dieser Tage der „Ernst des Lebens“: die Schule. Fächer wie Mathe oder Deutsch stehen selbstverständlich auf dem Stundenplan. Doch sollten Kinder auch digital erzogen werden?

Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!

Henning Kullak-Ublick
  • Im Umgang mit elektronischen Medien verkümmert Sprache zu Symbolen
  • Wer als Kind den Geräten fernbleibt, wird später mit ihnen gut umgehen
  • Die Schüler brauchen Kriterien, die ihnen bei der Computernutzung helfen

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Nur wer versteht, wie die Technik funktioniert, die man im alltäglichen Leben nutzt, der ist ein wacher Zeitgenosse. Das wusste Rudolf Steiner schon 1919, als er forderte, dass die Schüler erst dann die Waldorfschule verlassen dürften, wenn sie die Funktionsweise der elektrischen Straßenbahn wenigstens in ihren Grundzügen verstanden hätten. Was früher die Straßenbahn oder der Telegraf war, ist heute der Computer oder das Smartphone.

Es geht beileibe nicht darum, eine Technik abzuwerten. Wir wollen unsere Schüler aber in die Lage versetzen, die digitale Technik sinnvoll gebrauchen zu können. Hier stellt sich pädagogisch die Frage, welche Fähigkeiten ein Jugendlicher entwickeln muss, um mit der Technik so frei umgehen zu können, dass er sie sinnvoll einsetzen kann, ohne sich komplett von ihr okkupieren zu lassen.

Das Zeitgefühl bei der Nutzung verschwindet

Das gilt besonders für elektronische Medien, die viele seelische Aktivitäten imitieren und dadurch besonders verführerisch wirken würden. Dabei besteht die Gefährlichkeit darin, dass das Zeitgefühl bei der Nutzung verschwindet und die aktive Aufmerksamkeit durch die von außen erzeugte Bilder- und Informationsflut ersetzt wird. Sprache verkümmert zu Symbolen, und Langeweile kann leicht überspielt werden. Das prozessuale, denkende Erfassen von Zusammenhängen wird ohne eine adäquate Schulung allzu leicht durch häppchenweise Teilinformationen ersetzt, die statt eines Erkenntnisgewinns assoziative „Links“ erzeugen.

In der Waldorfpädagogik wird das Augenmerk stark darauf gerichtet, dass sich jedes Kind individuell entwickelt. Dabei besteht die grundsätzliche Herausforderung darin, dass die Kinder als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit im Lauf einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden müssen. Deshalb unterscheidet sie zwischen direkter und indirekter Medienpädagogik: Während Erstere die unmittelbare Handhabung stützt, fördert Letztere die dafür notwendigen Basiskompetenzen und achtet deshalb darauf, dass Kinder in ihren ersten Lebensjahren vor allem Erfahrungen außerhalb technisch gestützter Medien sammeln. Die spätere Medienkompetenz wurzelt in frühkindlicher Medienabstinenz.

Nachrichtensendungen vermitteln selten den Zusammenhang

Ein Grundmerkmal aller Medienformen ist, dass sie Einzelheiten aus der vielfältigen Wirklichkeit herauslösen und festhalten und diese dadurch ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren: Eine Nachrichtensendung transportiert viele Informationen, ist aber bereits das Ergebnis eines synthetischen Prozesses und vermittelt selten den größeren Zusammenhang einer Nachricht. Um diesen zu erfassen, bedarf es der Fähigkeit, Zusammenhänge selbst zu erkennen, Wissen aktiv zu beschaffen und die Qualität einer Quelle zu erkennen.

Beim Thema Computer geht es in der Waldorfpädagogik darum, dass dem selbstständigen Umgang mit dem PC die Bildung eines eigenständigen Urteils vorausgehen sollte. Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen. Deshalb ist der Umgang mit dem PC aus pädagogischer Sicht erst dann wirklich sinnvoll und notwendig. In der 7. und 8. Klasse können Schüler die Fähigkeit erlernen, mit zehn Fingern blind auf einer Tastatur zu schreiben (zumindest solange Computer noch mit Tastaturen bedient werden). Ab der 9. Klasse kann eine Einführung in die Computertechnologie stattfinden, und zwar ausgehend vom praktischen Umgang mit elektronischen Bauteilen und Geräten. In der 12. Klasse ist dann auch das Internet in seinem prinzipiellen Aufbau zu behandeln.

Anregung zur Internetrecherche ist ab der 7. Klasse sinnvoll

Damit Schüler die Computertechnologie auch für ihr Lernen sinnvoll und ökonomisch nutzen können, müssen sie lernen, wie man sich neben Büchern auch Online-Ressourcen zielführend erschließt. Dem geht allerdings voraus, dass sie auch wissen, wie man in Buchbeständen sinnvoll sucht. Eine gezielte Anregung zur Internetrecherche mithilfe von Suchmaschinen ist etwa ab der 7. oder 8. Klasse – zunächst angeleitet in der Schule – pädagogisch sinnvoll. Sehr wichtig ist es zudem, dass Schüler Kriterien an die Hand bekommen, mit deren Hilfe sie die Glaubwürdigkeit von Internetseiten beurteilen können.

Kinder, die bis zum Alter von etwa zwölf Jahren auf elektronische Medien verzichten, verpassen überhaupt nichts Substanzielles, vorausgesetzt, sie können wirklich wesentliche Erfahrungen machen, also über ihre Kreativität, ihre Sinneserlebnisse und vielfältige Begegnungen mit der „analogen“ Welt lernen, sich ihr mit Interesse und Neugier zuzuwenden.

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Henning Kullak-Ublick
© Henning Kullak-Ublick
Henning Kullak-Ublick

Vorstand, Bund der Freien Waldorfschulen

Henning Kullak-Ublick war von 1984 bis 2010 Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg. Seit 2002 ist er Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) und seit 2010 auch Sprecher des BdFWS. Bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners wirkt er seit 2008 im Vorstand mit und in der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, dem Haager Kreis, gehört er seit 2011 dem Vorstand an. Er war Gründungsmitglied der Grünen sowie von „Mehr Demokratie“.

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