So wie die Coronakrise die Gewohnheiten und geübten Prozesse des alltäglichen Lebens infrage stellt, so greift sie auch in die gewohnten Abläufe fast aller Unternehmen und Organisationen ein. Und hier wird bei näherem Betrachten deutlich, dass es nicht zuletzt um eine Krise des Vertrauens geht. Das gilt auch für das Vertrauen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern. In einer solchen Beziehung lassen sich drei Parameter voneinander abgrenzen:
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Vertrauenswürdigkeit: Wir unterscheiden einerseits zwischen Menschen, die wir nicht kennen, und solchen, die wir als vertrauens- beziehungsweise nicht vertrauenswürdig erachten, vorrangig basierend auf Erfahrungen aus der Vergangenheit.
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Vertrauensfähigkeit: Des Weiteren zeigen Menschen, basierend auf ihrer Persönlichkeit sowie ihren Vorerfahrungen, eine unterschiedliche Neigung, anderen zu vertrauen. Wir verfügen in einem unterschiedlichen Maß über die Fähigkeit (gegebenenfalls auch Willigkeit), anderen zu vertrauen.
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Vertrauensprozess: Davon abzugrenzen ist die eigentliche Vertrauensbeziehung, das auf positiven Erwartungen basierende Akzeptieren von Unsicherheit (beziehungsweise Verwundbarkeit) im Kontakt mit anderen Menschen oder Institutionen.
Ich möchte den Fokus in diesem Beitrag auf die Vertrauensfähigkeit legen, da diese in entsprechenden Diskussionen meines Erachtens oft zu kurz kommt. Es wird viel darüber diskutiert, was einen Menschen oder eine Institution vertrauenswürdig macht, die andere Seite der Medaille wird hingegen regelmäßig vernachlässigt. Dies ist wichtig, da wir davon ausgehen müssen, dass es sich beim Prozess des Vertrauens – in einem gewissen Umfang – um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt. Dies könnte sich folgendermaßen abspielen.
Ein Mitarbeiter bemerkt, dass die Führungskraft ihm ein kleines bisschen mehr zutraut als anderen – und belohnt dieses Vertrauen mit besseren Leistungen. Dies bestätigt die Führungskraft in ihrer Meinung und führt dazu, dass sie den betreffenden Mitarbeiter als besonders förderungswürdig ansieht. In der Folge macht die Person tatsächlich schnellere Fortschritte – was der Führungskraft zeigt, dass sie von Anfang an richtig lag. In diesem Fall erleben sich beide Protagonisten als Teil einer Aufwärtsspirale.
Das Ganze funktioniert natürlich ebenso trefflich in die andere Richtung. Wer als Führungskraft nicht (genug) vertrauen kann, wird das Bedürfnis entwickeln, den oder die Mitarbeiter zu kontrollieren. Diese werden den fehlenden Grad an Vertrauen über die Zeit bemerken, was sie wahrscheinlich verunsichert und damit potenziell Fehler hervorruft. Der erhöhte Grad an Fehlern bestätigt die Führungskraft wiederum in der Ansicht, dass Kontrolle wirksamer ist als Vertrauen. Erneut schließt sich der Kreis.
Was macht der Mikromanager in der Coronakrise?
Wenn nun eine Führungskraft schon im normalen Arbeitsleben nicht genug vertrauen kann, wird die Dynamik durch die Coronakrise mit großer Wahrscheinlichkeit verstärkt. Das Gros aller Organisationen hat als Folge der Kontaktbeschränkungen notgedrungen auf mobiles Arbeiten umgestellt, viele Mitarbeiter haben sich zumindest vorübergehend im Homeoffice eingerichtet. Damit fällt aber die wichtigste Kontrollmöglichkeit weitgehend weg: den Mitarbeitern beim Schaffen über die Schulter schauen zu können.
Und schon arbeiten wenig vertrauensfähige Führungskräfte daran, ihre Kontrollmöglichkeiten ins Digitale zu erweitern. In diesem Beitrag aus der „New York Times“ kann man en détail nachlesen, wie merkwürdig es sich anfühlt – für den Kontrollierten wie den Kontrollierenden –, wenn eine Software praktisch alles aufzeichnet, was ein Mitarbeiter den lieben langen Tag tut (oder nicht tut). Kontrolle ist allerdings eine Form der Symptombekämpfung, sie beseitigt das unterliegende Problem nicht, sondern verfestigt es im Grunde noch weiter. Die Ausübung von Kontrolle verhindert, dass sich die Vertrauensfähigkeit entwickeln kann, da sie nicht genutzt wird.
Den Vertrauensmuskel trainieren
Vertrauensfähigkeit steigern, das funktioniert vor allem durch kontrollierten Kontrollverlust. Sie können sich diesen Prozess vorstellen wie das, was in der Psychotherapie Desensibilisierung genannt wird, zum Beispiel bei der Behandlung einer Phobie. Der Klient lernt mit der Zeit, immer höhere Dosen eines angstauslösenden Reizes entspannt auszuhalten.
Das gilt auch für Menschen, die nicht genug vertrauen können. Sie müssen in Vorleistung gehen. Sie müssen sich mehr und mehr einlassen, um zu lernen, dass nichts Schlimmes geschieht. Vertrauensfähigkeit wächst mit der gezielten Überlastung. Ergo: Wir vertrauen ein wenig mehr, als wir ursprünglich vorhatten – und werden nicht enttäuscht. Nun vertrauen wir noch mehr und werden erneut bestätigt, um in der Folge noch mehr Vertrauen zu schenken.
Vielleicht liegt darum eine Chance in der Coronakrise. Viele Vorgesetzte können unter diesen Umständen gar nicht anders, als das Loslassen zu üben. Die Umstände zwingen sie dazu. Selbst wenn das Bedürfnis, die Kontrolle ins Digitale auszuweiten, stark vorhanden ist, werden nicht überall entsprechende technische Möglichkeiten bereitgestellt.
Macht durch Ohnmacht
Viele Menschen assoziieren Führung und hierarchischen Aufstieg mit mehr Macht und Freiheit. Konsequent zu Ende gedacht, geschieht jedoch genau das Gegenteil, wenn man aus seiner Führungsrolle heraus Mitarbeiter in ihrer Autonomie fördern will. Wir lernen, weiter loszulassen, stärken dadurch die geführten Personen – und begeben uns gleichzeitig in eine immer tiefere Abhängigkeit von diesen Menschen, weil wir im Sinne des eigenen Erfolgs auf deren Beitrag und ihr (Wohl-)Wollen angewiesen sind. Somit hat Führungskompetenz viel zu tun mit der Fähigkeit und dem Wunsch, sich zu binden. Man könnte auch sagen: Führungskräfte werden wirkmächtiger, je mehr Ohnmacht sie verkraften.
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