Es ist noch gar nicht allzu lange her, da war es noch der Sportverein oder das Auto. Und natürlich die Religion, vielleicht auch die politische Einstellung: alles Dinge, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe symbolisierten, die uns abgrenzten und uns eine Identität gaben. Heute büßen diese tradierten Ordnungssysteme an Bedeutung ein und erhöhen das Bedürfnis nach Struktur an anderer Stelle. Nicht wenige fühlen sich zunehmend orientierungslos, erleben ein Defizit bei der sozialen Verortung und stellen sich Fragen wie: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie will ich von anderen wahrgenommen werden?
Ich zeige, durch das, was ich esse, auch, was ich bin
Und genau an diesem Punkt kommt das Essen ins Spiel. Was früher eine reine Notwendigkeit darstellte, entwickelt sich heutzutage zu einer neuen Ordnungs- und Sinnstruktur. Ob vegan, vegetarisch, gluten- oder laktosefrei – der individuelle Ernährungsstil signalisiert Einzigartigkeit und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gleichermaßen. Das Essen fungiert dabei als eine Art digitales Tattoo, ein Selbstbild, das sich hervorragend zeitgemäß digital kommunizieren lässt. Der Schnappschuss von meinem perfekt arrangierten Teller, die Facebook-Gruppe, in der ich weitere Anhänger zum Beispiel der Steinzeit-Diät finde.
Wohl kaum etwas ist derart einfach, günstig und gut zu modellieren wie das Essen. Ich kann mich so als Person selbst definieren – und meine Haltung und Werte der Außenwelt zeigen. Gleichzeitig zeigen Studien aber, dass die Menschen wankelmütig wie nie sind, zumindest in unterschiedlichen Lebensbereichen. Galt für Veganer früher noch: Fahrrad fahren statt Auto, Bahn statt Flieger, ist der Spielraum für das Verhalten in anderen Lebensbereichen heute viel größer. Eine aktuelle Studie des Rheingold-Salons und der Lohmann-Stiftung zeigt sehr deutlich, dass Verbraucher kaum noch in sich stimmige und logische Positionen quer durch alle Lebensbereiche einnehmen.
Widersprüchlichkeit wird akzeptiert
Zum einen wollen sie Strom aus Windkraft, sind gleichzeitig jedoch konsequent gegen die damit verbundenen neuen Stromtrassen, oder sie sind gegen Massentierhaltung und kaufen dennoch das günstige Fleisch beim Discounter. Derartige Widersprüchlichkeit ist zur neuen Realität geworden. Natürlich gibt es auch heute noch Verbraucher, die die zum Ernährungsstil gehörigen Werte auch konsequent in allen anderen Lebensbereichen leben.
Was aber folgt aus all der Selbstinszenierung und Individualisierung? Eine Gesellschaft kulinarischer Egomanen, die sich gegenseitig vorwerfen, einem falschen Ernährungsglauben aufzusitzen? Teilweise, aber eine andere Funktion des Essens nivelliert: Gemeinsames Essen ist sozialer Kitt. Facebook zum Beispiel kann zwar oberflächliche Zusammengehörigkeit erzeugen, aber gemeinsames Essen mit Familie und Freunden vor Ort schafft ein tragfähigeres soziales Netz. Das gemeinschaftliche Grillen am Wochenende zu zelebrieren ist ein sinnstiftendes Szenario – und das wird es auch bleiben. Ob nun vegetarisch oder Paleo.
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