Generalisten im Job: flexible Alleskönner oder oberflächliche Chaoten?

„Bei Jobwechsel und Karriereplanung haben es Generalisten oft schwer, sich gegen spezialisierte Kollegen durchzusetzen.“ Was ist dran an dieser Behauptung? Sollte man besser Experte werden?

Liebe Generalisten, lernt Eure Vielfalt zu schätzen

Dr. Bernd Slaghuis
  • Wir kennen das Vorurteil: Generalisten können alles etwas, aber nichts richtig
  • Dabei sind sie gerade in turbulenten Zeiten für Unternehmen besonders wertvoll
  • Außerdem: fünf Tipps für Generalisten als Jobwechsler in der Coronakrise

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Weiß ich genug? Kann ich genug? Bin ich gut genug?

Diese Gedanken gehen vielen der Alles-etwas-und-nichts-richtig-Könnern durch den Kopf, wie sich Generalisten gerne selbst bezeichnen. Sie sind vielseitig interessiert, oftmals breit ausgebildet und schon länger im Beruf. Sie haben etliche Branchen und Berufe aus eigener Erfahrung kennengelernt. Sie mögen das Abenteuer und hassen Routine. Ihnen wird schnell langweilig, sie sind ständig hungrig auf Neues und mehr Macher als tiefgründige Denker.

Leider plagt fast alle typischen Generalisten das dumpfe Gefühl, im Vergleich mit ausgewiesenen Spezialisten immer etwas hintenan zu stehen. Sie wissen genau, dass es irgendwo jemanden auf der Welt gibt, der mehr über ein Thema weiß. Schließlich bekommen sie es täglich in ihren Jobs zu spüren, wenn sie zu Fachthemen nicht gefragt und gehört werden und stattdessen lieber die nächste Weihnachtsfeier organisieren sollen. Besonders schmerzlich ist das, wenn sie im Wettbewerb der Karrieren stehen. Wenn der Fachexperte mit blendender Expertise zur Führungskraft befördert wird oder der Spezialist mit tiefrotem Faden im Lebenslauf am Ende das Rennen um den neuen Traumjob gewinnt.

Im Bewerbungscoaching sitzen mir in gefühlt 98 Prozent aller Fälle Generalisten gegenüber. Weil sie so breit interessiert nicht wissen, welche Jobs wie für sie gemacht sind und bei der Suche den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Weil der rote Faden ihrer Lebensläufe eher kunterbunt ist und sie für Recruiter auf den ersten Blick schwer greifbar sind. Und weil sie als Bewerber spätestens nach der ersten Absage selbst fest davon überzeugt sind, für jeden Job auf dieser Welt niemals gut genug zu sein. Schließlich seien sie doch auch bisher immer einfach so in neue Jobs reingerutscht, erzählen sie mir häufig im Coaching.

Wird es irgendwann Zeit, Spezialist zu werden?

Viele Angestellte, die schon einige Jahre im Beruf sind und bisher eher als Generalisten unterwegs waren, fragen sich deshalb insbesondere vor beruflichen Veränderungen, ob sie nun endlich auch zum Spezialisten in einem Gebiet werden müssen.

Es ist nur so ein Gedanke, doch im gleichen Augenblick signalisiert ihr Bauch, dass er sich falsch anfühlt. Denn die meisten Generalisten haben überhaupt keine Lust darauf, sich auf ein Thema zu fokussieren, sich tief darin einzugraben und das Drumherum gezielt zu übersehen.

Es kommt ihnen vor wie der freiwillige Einzug in eine triste Gefängniszelle – mit schweren Ketten für immer und ewig als Spezialist an ein Thema gefesselt. Nein, die gezielte Transformation vom Generalisten zum Spezialisten wäre für viele geborene Alleskönner sich untreues Verbiegen – und damit auf Dauer vermutlich auch ungesund.

Spezialisten suchen Stellen, Generalisten finden Arbeitgeber

Wenn ich mit Jobwechslern über ihre Werte im Beruf und hierzu passende Zielpositionen spreche, dann fällt mir bei vielen Generalisten auf, dass es nicht die Position, die Inhalte und Tätigkeiten selbst sind, die über Erfolg und Zufriedenheit im Job entscheiden, sondern das passende Arbeitsumfeld.

Die meisten Generalisten benötigen ein gutes Maß an Freiheit mit Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen. Sie möchten mit Vertrauen geführt werden und wünschen sich Führungskräfte als Mentoren auf Augenhöhe statt kontrollierender Chefs. Ein starkes Team, das gemeinsam an einem Strang zieht und Ziele verfolgt ist vielen ebenfalls wichtig. Eine Unternehmenskultur, in der echte Macher/innen nicht nur still geduldet werden, sondern Wandel explizit gewünscht ist.

Ich empfehle Generalisten daher, sich von der stumpfen Suche nach Stellen in Jobbörsen zu verabschieden und stattdessen gezielt Arbeitgeber, Branchen, Produkte oder Dienstleistungen zu finden, die sie interessieren und mit denen sie sich persönlich identifizieren können – und erst dort nach Stellen zu suchen, die zu ihren Werten, Zielen und Stärken sowie zu ihrem Erfahrungswissen der letzten Jahre passen.

Manchmal beginnen wir im Coaching, uns passende Jobtitel zu überlegen und stellen fest, dass diese Liste unendlich lang und die Aufgaben sehr breit werden – so viele automatisierte Jobsuchen könnt Ihr bei Monster, Stepstone & Co. gar nicht hinterlegen. Die gezielte Suche nach Arbeitgebern und auf deren Karriereseiten nach Stellen ist die Strategie, die fast alle Generalisten zielgenauer zum nächsten Job führt.

Generalisten, akzeptiert Euch

Die Beschäftigung mit der Frage, wohin Dich der nächste Karriereschritt führen soll und insbesondere die aktive Jobsuche sind erst dann sinnvoll, wenn Du Dich als Generalist/in mit Deinen besonderen Stärken selbst akzeptierst – im besten Fall sogar stolz darauf bist. Es ist Deine eigene innere Haltung, die darüber entscheidet, welche Suche nach spannenden Jobs und Arbeitgebern Du Dir selbst erlaubst. Es ist Deine Entscheidung, wie selbstbewusst Du Dich mit Deiner Bewerbung als bekennender Generalist zu erkennen gibst und wie klar Du auch in die Gespräche mit potenziellen Arbeitgebern gehst.

Ich bin überzeugt davon, dass wir in Zukunft sowohl Generalisten als auch Spezialisten in unserer Arbeitswelt benötigen – womöglich sogar stärker Generalisten. Denn es wird immer mehr darauf ankommen, sich innerhalb einer Organisation flexibel sowohl auf neue Themenfelder als auch unterschiedliche Teamkonstellationen einstellen zu können. Zusammenarbeit in Projekten, agiles Arbeiten, vielleicht sogar der temporäre Wechsel zwischen Führungs-, Projekt- und Expertenrolle werden zunehmen. Generalisten trainieren und lieben Flexibilität, Spezialisten werden sich hierbei tendenziell schwerer tun.

Fünf Tipps für Generalisten, die sich in der Coronakrise bewerben wollen

1. Akzeptiere Dich als Generalist und erkenne Deine Stärken

Was macht Dein vielfältiges Erfahrungswissen als Generalist aus, was fällt Dir besonders leicht, macht Dir wirklich Freude und unterscheidet Dich auch positiv von Spezialisten? Es sind auch solche Fähigkeiten, die gerade jetzt bei vielen Arbeitgebern gezwungen zum Wandel in der Krise gefragt sind.

2. Werde Dir Deiner Werte in Leben und Beruf bewusst

Im Erleben der Krise haben viele Arbeitnehmer ihre Werte neu reflektiert und erkannt, was für sie im Leben und Beruf in Zukunft wirklich zählt. Also: Was sollte für Dich alles in den nächsten Jahren in einer Position und bei einem Arbeitgeber erfüllt sein, damit es Dir dort gut geht, Du motiviert bist und Deine vielfältigen Stärken erfolgreich einbringen kannst? Bleibe Dir treu - trotz und aufgrund der Krise. Dem Thema berufliche Neuorientierung in der Krise habe ich als Insider einen eigenen Beitrag gewidmet.

3. Suche nicht irgendwelche Stellen, finde Deinen Arbeitgeber

Viele Branchen sind stark von den Auswirkungen der Coronapandemie betroffen, andere erleben einen ungeahnten Aufwind. Als echter Generalist bist Du nicht auf eine Branche festgelegt. Also: Für welche Branchen, Produkte oder Dienstleistungen mit Zukunft schlägt Dein Herz, welche Arbeitgeber passen hierzu und welche offenen Stellen sprechen Dich mit Deiner Berufserfahrung dort an?

4. Gib Dich in Lebenslauf und Anschreiben als Generalist zu erkennen

Zeichne ein umfassend breites Bild Deiner bisherigen Positionen im Lebenslauf und mache Dich so als Generalist richtig greifbar. Nutze das Anschreiben, um Klarheit für die gemeinsame Zukunft zu schaffen, welche Deiner vielen Kompetenzen und Erfahrungen Du speziell für diese Position für besonders wertvoll erachtest. Wenn Du sogar einen Bezug zur Corona-Krise und den Herausforderungen für dieses Unternehmen schaffen kannst, dann rein damit. Zum Thema „Lücken im Lebenslauf“ habe ich mich auch im Videoformat XING Talk geäußert.

5. Prüfe bei Jobangeboten, ob Deine Spielwiese groß genug ist

Viele Generalisten können sich in Gesprächen gut verkaufen und schlagen beim erstbesten Jobangebot zu schnell zu. Diese Gefahr ist in der Krise bei entsprechend weniger Stellenausschreibungen umso größer. Kläre und hinterfrage im Austausch mit einem potenziellen neuen Arbeitgeber, ob Du als Generalist dort wirklich willkommen bist und auch jene „Spielwiese“ erhältst, die Du benötigst, um einen guten Job zu machen und nachhaltig erfolgreich zu sein.

Auch wenn sich der Arbeitsmarkt als Folge der Coronakrise verfinstert, ist das kein Grund – insbesondere als derart anpassungsstarker Generalist – in der Rolle als Bewerber jetzt zum demütigen Bittsteller zu mutieren. Denn diese eintönige Verkleidung passt nicht nur schlecht zu Dir, sondern turnt auch Personaler und Chefs auf der Suche nach neuen Kollegen ab.

Diskutiert mit liebe Leserinnen und Leser. Was sind Deine Erfahrungen als Generalist/in? Kennst Du die Gedanken, nie gut genug zu sein? Was hast Du als waschechter Generalist in der Rolle als Bewerber/in schon alles erfahren – und wie bist Du damit umgegangen?

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Dr. Bernd Slaghuis
© Privat
Dr. Bernd Slaghuis

Ökonom, Karriere- und Business-Coach

for Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Dr. Bernd Slaghuis ist promovierter Ökonom, Systemischer Coach und Experte für neue Karrieren und gesunde Führung. In seiner Kölner Coaching-Praxis hat er sich auf Anliegen der Karriereplanung und beruflichen Neuorientierung sowie das Coaching von Führungskräften aus dem mittleren Management spezialisiert. Er schreibt in seinem Karriere-Blog „Perspektivwechsel“ über seine Sichtweisen auf Karriere, Bewerbung sowie Führung und hält zu diesen Themen deutschlandweit Vorträge und gibt Seminare.

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