Historische Wahl in Thüringen: Was bedeutet sie für das Land?

In Thüringen wurde völlig unerwartet FDP-Kandidat Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten gewählt – offensichtlich mit Stimmen der AfD. Trotzdem nahm er die Wahl an. Wie geht es nun weiter?

Wahl in Thüringen: Diese Zäsur ist kaum zu reparieren

Jeannette Gusko
  • In Thüringen wurde FDP-Kandidat Kemmerich mit AfD-Stimmen Ministerpräsident
  • CDU und FDP lassen die Grenze zu den Rechtsextremen verwischen
  • Wer vor Faschisten warnt, darf sich nicht von ihnen wählen lassen

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Wir erfassen Geschichte in Bildern, erinnern uns in Momenten. Ein solches Bild sah die ganze Welt gestern: Björn Höcke, rechtsextremer Vorsitzender der AfD in Thüringen, reicht dem neuen Thüringer Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) im Landtag die Hand, nachdem dieser den dritten Wahlgang gewonnen hat. Das Bild zeigt den Königsmacher im Fokus. Ministerpräsident von Gnaden der Faschisten. Klingelt’s?

Ich war nicht die Einzige, die sich an das historische Bild aus dem Jahr 1933 erinnert sah, als der erst zwei Monate zuvor zum Reichskanzler ernannte Adolf Hitler die Hand des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vor der Potsdamer Garnisonkirche schüttelte. Auch der Europaparlamentarier Guy Verhofstadt, selbst Liberaler, twitterte den symbolstarken machtpolitischen Vergleich mit den Worten: Nicht in unserem Namen.

Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass CDU und FDP Steigbügelhalter der Rechten sind

Der Moment ist da, es ist deutlich zu spüren. Es ist passiert. Keine vermeintliche Überraschung, keine Verschleierung, keine Ablenkung kann darüber hinwegtäuschen, dass CDU und FDP Steigbügelhalter der Rechten sind. Der 5. Februar 2020 ist eine Zäsur, unerträglich und widerwärtig, die wir kaum reparieren können, wenn überhaupt. Sie ist jedoch auch der nächste logische Schritt einer seit Jahren andauernden Diskursverschiebung, welche Konservative und Liberale mit publizistischem Brennstoff versorgen.

So wird bei neuen Ideen zu Verteilungs- oder Klimagerechtigkeit immer häufiger von „Sozialismus“ und „Umerziehung“ gesprochen – Worte, die abgrenzen und abwerten. Eine weitere Strategie der Rechten, die sogenannte Äquidistanz, findet in einer kontinuierlichen Gleichsetzung der Linken mit der AfD als „Parteien der politischen Extreme“ statt. Auch werden die Selbstbeschreibungen Der AfD-Politiker Alexander Gauland und Björn Höcke als „bürgerlich“ und „Politiker der Mitte“ noch viel zu häufig unreflektiert übernommen.

Wer sich von Faschisten wählen lässt, ist kein „Kandidat der Mitte“

Das zeigte sich auch unmittelbar nach der Skandalwahl in Thüringen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), gratulierte dem neuen Ministerpräsidenten und nannte ihn „Kandidat der Mitte“, als sei es eine Wahl wie jede andere. Wer vor den Faschisten warnt, kann nicht gleichzeitig die eigenen Machtgelüste mit ihrer Hilfe befriedigen. Wer dies tut, normalisiert nicht nur rechte Positionen, sondern schürt Angst und Leid unter jenen, die innerhalb dieser Positionen nicht vorgesehen sind.

Es sind marginalisierte Gruppen, Menschen, die Rassismus, Antisemitismus, körperliche und seelische Gewalt erfahren, die seit Jahren vor der rechten Gefahr warnen. Die sich vor den Konsequenzen eines salonfähigen Rassismus fürchten, der in Entscheidungen von Behörden, Verwaltung, Polizei und Justiz hinein sickert. Historische Kontinuitäten werden der Mehrheit der Bevölkerung häufig erst in der Retrospektive bewusst. Wir haben als Zivilgesellschaft nun keine Wahl mehr. Es gibt unter konservativen, vermeintlich liberalen und faschistischen Kräften einen Schulterschluss, die liberale Demokratie anzugreifen. Mit dem Ziel, sie abzuwickeln.

Für Kemmerich muss es einen Rücktritt geben

Für uns kann der 5. Februar nur bedeuten, Verbündete zu sein und uns viel besser zu organisieren. Mit jenen, die angegriffen werden und unseres Schutzes bedürfen. Mit jenen, die in den Kommunen jeden Tag auch höchster Bedrohung standhalten. Treten Sie in demokratische Parteien ein. Engagieren Sie sich selbst in diesen Parteien und lassen Sie sich aufstellen. Übernehmen Sie Aufgaben und Verantwortung in sozialen Bewegungen oder Nichtregierungsorganisationen. Es ist passiert. Um es überhaupt wieder einfangen zu können, braucht es uns alle.

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