Karlsruher Urteil zur Sterbehilfe: Ärzte dürfen beim Suizid helfen

Wenn Schwerstkranke ihr Leben beenden wollen, durften Mediziner sie dabei bisher nicht unterstützen. Am Mittwoch hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Verbot verfassungswidrig ist.

Warum ich als Arzt für die Sterbehilfe nach Karlsruhe ziehe

Dr. med. Michael de Ridder

Arzt, Hospiz-Gründer und Medizin-Autor

Dr. med. Michael de Ridder
  • Der Staat kriminalisiert zu Unrecht die Förderung der Selbsttötung
  • Ärzte dürfen derzeit selbst Schwerstkranken nicht beim Sterben helfen
  • Die Verfassungsrichter sollten die Hilfe erlauben – aber auch Grenzen ziehen

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Im Juli 2016 habe ich Verfassungsbeschwerde gegen § 217 StGB eingelegt, der die (ärztliche) Beihilfe zum Suizid verbietet. Am Mittwochvormittag ist es so weit, dann entscheiden die Richter. Warum ich geklagt habe, möchte ich hier erklären.


Lesen Sie hier die Gegenposition zu diesem Text: Das ist das Ende der Solidarität


Meiner Überzeugung nach sollte der am 10. Dezember 2015 in Kraft getretene neue Strafrechtsparagraph 217, der die geschäftsmäßige (also auf Wiederholung angelegte) Förderung der Selbsttötung kriminalisiert, vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden. Der Grund: Dieser Paragraph greift in das Grundrecht des Bürgers auf „Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug“ – BVerfGE 63, 343 (357) – in unverhältnismäßiger Weise ein. Denn dieses Grundrecht beinhaltet auch die Verpflichtung des Staates, die Wahrnehmung und Umsetzung dieses Grundrechts unter menschenwürdigen Bedingungen und mit geeigneten Mitteln zu ermöglichen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn der Bürger selbstbestimmt sein Leben beenden will, muss der Staat auch dies ermöglichen.

Die Politik ignoriert ein höchstrichterliches Urteil

Über die Mittel dazu verfügt allerdings allein die Ärzteschaft. Daraus folgt, dass der Staat laut Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 in „extremen Ausnahmesituationen“ Schwerstkranken ein Recht auf den Zugang zu Mitteln zur Selbsttötung gestatten muss. Letzteres hat jedoch Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit, durch Weisung an das Bundesinstitut für Arzneimittel über einen sogenannten Nichtanwendungserlass rechtswidrig verhindert. Begründung: „Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, Selbsttötungshandlungen durch die behördliche, verwaltungsaktmäßige Erteilung von Erlaubnissen zum Erwerb des konkreten Suizidmittels aktiv zu unterstützen.“

Dagegen ist zu sagen: Es ist ein unerhörter Vorgang, dass die Politik ein höchstrichterliches Urteil ignoriert! Woraus auch folgt, dass Ärzte durch den Erlass daran gehindert werden, eine Selbsttötung zu ermöglichen. § 217 StGB trifft die Ärzte auch direkt, weil er die ärztliche Gewissensfreiheit (Art. 4/1 GG) und Berufsfreiheit (Art. 12/1 GG) verletzt. Diese beiden Artikel bilden die Grundlage meiner Verfassungsklage gegen § 217 StGB. Nach einem schon 1963 ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Übrigen auch das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid umfasst, „… bildet die Freiheit der Gewissensentscheidung als ein Kernstück der ärztlichen Ethik eine immanente und wesenseigene Beschränkung der berufsständischen Rechtsetzungsgewalt.“

Kurz gesagt: Ärzte sind die geeignetsten Personen, um in einem dialogischen Prozess mit ihren Patienten deren unumstößliche Willensentscheidung zum Suizid zu konstatieren und im Einklang mit ihrem ärztlichen Gewissen zu entscheiden, ob sie Suizidhilfe leisten wollen oder nicht.

Suizidbeihilfe muss sich strengen Kriterien orientieren

Ich möchte betonen, dass ärztliche Suizidbeihilfe auf Seiten des Suizidwilligen Freiverantwortlichkeit, Wohlerwogenheit und Nachhaltigkeit seines Entschlusses voraussetzt. Dies ist regelhaft nicht der Fall bei psychisch Kranken und (jungen) Menschen in akuten Lebenskrisen (Liebeskummer, Partnerverlust oder Ähnliches); sie bedürfen ganz im Gegenteil suizidpräventiver Angebote, sie benötigen „Lebenshilfe“ und keine Sterbehilfe.

Das Verfassungsgericht sollte am Mittwoch also auch Grenzen beziehungsweise Rahmenbedingungen setzen, die suizidwilligen Personen eine ergebnisoffene Beratung (inklusive Bedenkfristen, Begutachtung et cetera) anbieten beziehungsweise vorgeben. Denken ließe sich hier an Einrichtungen einer neu zu schaffenden Suizidkonfliktberatung nach dem Vorbild der Schwangerschaftskonfliktberatung zum §218.

Hervorzuheben sind in diesem Kontext die Möglichkeiten und Reichweite palliativer und hospizlicher Versorgung, die gerade für terminal Kranke in den allermeisten Fällen ein würdiges und subjektiv erträgliches Lebensende ermöglichen. Indes ist auch die Palliativmedizin nicht ausnahmslos dazu in der Lage, alle mit dem Sterben einhergehenden quälenden Symptome ausreichend zu lindern, ganz abgesehen davon, dass manche Menschen Palliativmedizin ablehnen, da sie über Zeit und Ort ihres Sterbens selbst verfügen wollen.

Eine Erlaubnis würde keinen Arzt zur Suizidbeihilfe verpflichten

Aus meiner Sicht verhalten sich Palliativmedizin und ärztliche Suizidassistenz nicht antagonistisch, sondern vielmehr komplementär zueinander. Ärztliche Suizidassistenz kann zu einer äußersten Maßnahme palliativer Medizin werden: Sie kann unter gewissen Voraussetzungen nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten sein; was nicht damit gleichzusetzen ist, dass die Ärzteschaft zur Suizidbeihilfe verpflichtet werden kann.

Und so lautet mein abschließendes Statement: Ein aussichtslos leidender Patient, der frei verantwortlich zu entscheiden und zu handeln in der Lage ist; der beste ärztliche und pflegerische Versorgung sowie soziale Aufgehobenheit erfährt; der über alle Möglichkeiten der Palliativmedizin informiert und aufgeklärt ist und dennoch weiterleidet oder eine palliative Versorgung ablehnt, sollte bei einem nachhaltigen und wohlerwogenen Suizidwunsch diesen mit ärztlicher Hilfe vollziehen dürfen. Mit seinem Urteil am Mittwoch kann das Bundesverfassungsgericht den Weg dafür frei machen.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser: Wie ist Ihre Meinung zur Sterbehilfe? Kann sie angemessen sein oder sollte man stattdessen vielmehr auf Palliativmaßnahmen setzen?

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Dr. med. Michael de Ridder
© Michael de Ridder
Dr. med. Michael de Ridder

Arzt, Hospiz-Gründer und Medizin-Autor

Dr. Michael de Ridder (Jg. 1947) ist Facharzt für Innere Medizin, Medizinjournalist und Buchautor (unter anderem „Abschied vom Leben. Von der Patientenverfügung bis zur Palliativmedizin. Ein Leitfaden“, Pantheon 2017). Bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2014 war er Chefarzt und Leiter der Rettungsstelle des Berliner Vivantes-Klinikum Am Urban. 2012 gründete er ein Hospiz in Berlin.

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