Lässt sich Führen lernen?

Extrembergsteigen, Meditation oder Schwarmintelligenz: Die Inspirationsquellen für Führungskräfte sind vielfältig, das Bedürfnis nach Orientierung und praktischen Ratschlägen ist gross.

Nicole Rütti
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Ein hungriges Wolfsrudel muss niemand motivieren – am Chef ist es aber, den Hirsch auszumachen. (Bild: Kerstin Joensson / AP)

Ein hungriges Wolfsrudel muss niemand motivieren – am Chef ist es aber, den Hirsch auszumachen. (Bild: Kerstin Joensson / AP)

Die rund 50 Kursteilnehmer haben die Augen geschlossen und lauschen gebannt der Stimme der Referentin. «Konzentrieren Sie sich auf das Sitzen. Wie fühlt es sich an?», fragt die Frau in einem beruhigenden und zugleich eindringlichen Tonfall. «Spüren Sie Ihren Atem? Ist er flach, tief, rasch oder langsam?», so bohrt sie nach. «Beobachten Sie Ihren Atem, und folgen Sie ihm. Falls Ihre Gedanken abwandern, werden Sie sich dessen bewusst, und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit erneut auf den gegenwärtigen Moment, ohne zu werten.»

Was wie ein buddhistisches Meditations-Training anmutet, ist in Wirklichkeit ein Symposium für Führungskräfte der ZfU International Business School. Und wir sitzen auch nicht in einem thailändischen Meditationsraum, sondern in einem sterilen Seminarraum eines Hotels in Regensdorf. Beinahe alle Teilnehmer lassen sich auf das Experiment ein. Doch nicht alle sind gleichermassen fasziniert von der unkonventionellen Übung, die zur Steigerung der Aufmerksamkeit beitragen soll. Einzelne beginnen, auf ihrem Stuhl ungeduldig hin und her zu rutschen. Ein Mann mittleren Alters hält die ungewohnte Situation schliesslich nicht mehr aus und nimmt sein Smartphone hervor. Kurze Zeit später verlässt er den Seminarraum.

Google macht's vor

Nach drei Minuten ist die Kurzmeditation vorbei: Die Teilnehmer öffnen die Augen und wenden sich interessiert den Ausführungen von Angelika von der Assen zu. Was die Organisationspsychologin den Teilnehmern des eintägigen Leadership-Symposiums vermitteln will, ist «Mindful Leadership» – eine Anleitung für einen achtsamen Führungsstil. Was braucht es, um effizienter zu werden, um den Alltag mit mehr Leichtigkeit zu meistern oder um motivierte Mitarbeiter zu haben? Aufmerksamkeit, Fokus, Neugier, innere Ruhe, Selbststeuerung und Empathie – so lautet die einprägsame Botschaft an die Adresse der Führungskräfte.

Ihren Ursprung hat die aufmerksamkeitsbezogene Haltung in den meditativen Praktiken der buddhistischen Tradition. Als neuer Führungstrend hat sie sich vor allem in den USA etabliert, wohl nicht zufällig in denjenigen Firmen, die nicht unbeteiligt sind am Entstehen des heutigen Aufmerksamkeitsdefizits und Multitasking. So bietet Google seinen Mitarbeitern bereits seit 2007 ein Programm für persönliches Wachstum an: Das auch in Buchform publizierte Aufmerksamkeits-Training «Search Inside Yourself» des Google-Ingenieurs Chade-Meng Tan ist inzwischen Teil des Arbeitslebens im Technologiekonzern. Ziele der Meditationsübungen sind zufriedenere, gelassenere, kreative und erfolgreiche Mitarbeiter. Mittlerweile ist das Konzept auch in Europa angekommen: So setzen heute auch Firmen wie Axa, SAP, Axpo oder KPMG auf Meditation.

Inspiration für den Alltag

«Mindful Leadership» ist nur einer von fünf verschiedenen Führungsstilen, die die Teilnehmer des sechsten Leadership-Symposiums präsentiert bekommen. Wie Claudia Buzzelli, die Leiterin des Bereichs Führung und Kommunikation der ZfU, ausführt, richtet sich die Veranstaltung vor allem an Führungskräfte des mittleren bis oberen Kaders. Das lässt sich auch am stolzen Preis für das eintägige Programm ablesen, der sich für Nicht-ZfU-Mitglieder und erstmalige Teilnehmer auf 980 Fr. beläuft. Entsprechend trifft man bei der Kaffeepause und am Mittagessen auf viele Geschäftsführer von kleinen und mittelgrossen Unternehmen, aber auch auf Bereichsleiter oder Projektmanager von grösseren Firmen wie Hewlett-Packard, Credit Suisse, SRG oder der Zürcher Kantonalbank. Frauen bilden die Minderheit. Insgesamt finden sich auf der Besucherliste unter den 54 aufgeführten Namen 7 Teilnehmerinnen, ein Verhältnis, das etwa dem Frauenanteil in den Führungsetagen der hiesigen Unternehmen entspricht.

Auf die Frage, was die Anwesenden zur Teilnahme am Symposium bewogen habe, erhält man oft ähnliche Antworten: Die meisten Kaderkräfte erhoffen sich Impulse und Inspiration für ihren Führungsalltag. Wichtig seien auch der gegenseitige Gedankenaustausch abseits des Tagesgeschäfts und die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen, oder, wie ein Teilnehmer sich ausdrückt, zu erfahren, mit welchen Problemen andere Führungskräfte kämpfen. Das Bedürfnis nach Orientierung und konkreten Anleitungen ist gross. Dies veranschaulicht unter anderem der boomende Markt für Kaderausbildungen und Ratgeberbücher. Und dieses Bedürfnis wird von den Referenten und Führungs-Experten auch redlich bewirtschaftet. «Wir leben in einer Vuca-Welt», ist der Satz, den die Teilnehmer an diesem Tag wohl am häufigsten zu hören bekommen. Vuca setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Adjektive volatile, uncertain, complex und ambiguous zusammen. Doch wie überlebt man in einem von Unbeständigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägten Umfeld?

Unter der Golden Gate Bridge

Als Lösungsansatz wird den Teilnehmern eine breite Palette von Führungsstilen präsentiert. Ratschläge erhalten sie beispielsweise vom Extrembergsteiger Rainer Petek, der seine gesammelten Erfahrungen auf die Wirtschaft überträgt und Konzerne als Berater in schwierigen Situationen begleitet. Die Kernaussage seines «Nordwand-Prinzips» lautet: «Wir überschätzen das Ausmass an Planbarkeit und unterschätzen unsere Möglichkeiten im Umgang mit dem Ungewissen.» Einen anderen Ansatz, um die Herausforderungen der Vuca-Welt zu meistern, stellt Michael Hengl, Coach von Top-Führungskräften, vor: Er ruft Manager zur vermehrten Nutzung der in jedem Unternehmen vorhandenen kollektiven Intelligenz auf. Grosse Gruppen hätten ein Bauchgefühl, das sehr gut sei, davon ist Hengl überzeugt. Dieses Wissen und die damit einhergehende Koordinationsleistung gelte es zu bündeln, ähnlich wie bei einem Fischschwarm.

Zur Veranschaulichung gibt es eine Gruppenarbeit. So sehen sich die Teilnehmer vor die Aufgabe gestellt, als Kollektiv in einer Art Flugsimulator ein Flugzeug zu lenken, vom San Francisco International Airport aus unter der Golden Gate Bridge hindurch zu steuern und später zum Landen zu bringen – eine Übung mit hohem Unterhaltungswert, die dank gezielter Schwarmanleitung von Hengl natürlich auch gelingt. Doch wie lässt sich Schwarmintelligenz innerhalb eines Unternehmens nutzen? Laut Hengl durch verbessertes Feedback, mehr persönliche Autonomie, transparente Ziele und Diversität.

Diversität ist auch das Stichwort des Business-Trainers Waseem Hussain, der sich als Brückenbauer zwischen Kulturen versteht und Anleitungen gibt, wie man die Führung an eine interkulturelle Umgebung anpasst. Zu seinem Programm gehören längere Abstecher in die indische Mythologie und in die christliche Religion, die die unterschiedlichen Wertesysteme und Denkmuster prägen. Diese begründen laut Hussain auch, weshalb beispielsweise in indischen Firmen ein anderer Führungsstil vorherrscht als in westlichen Konzernen. So gilt in Indien der Guru als Lebenslehrer und ideale Führungsperson. Der Anspruch an die Führungskraft ist dabei die persönliche Reife, wie der Referent ausführt. Und diese erlange man durch Lebenserfahrung wie Heirat und Familiengründung. Erst dadurch lerne eine Person, Führung zu übernehmen. In vielen indischen Unternehmen würden Mitarbeiter deshalb erst in dieser Lebensphase befördert, betont Hussain.

Eine Beförderung nach dem Leistungsprinzip könne sich als Fehler entpuppen, weil eine junge, unverheiratete Person in Indien als unerfahren gelte und mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht als Führungskraft akzeptiert würde. Im Urteil von Hussain sind kulturelle Unterschiede – auch für Firmen – eine Bereicherung, wenn man sich auf einen Perspektivenwechsel einlässt. Denn jedes Element habe sein Gegenstück, was ein Gleichgewicht ergebe, erklärt er in Anlehnung an die chinesische Philosophie von Yin und Yang. Um dies zu veranschaulichen, hilft auch ein Exkurs in die altindische Liebeslehre. Die körperliche Vereinigung sei die beste Form, um diese Transzendenz darzustellen, erklärt Hussain. «Kamasutra als Managementphilosophie?», fragen sich nicht wenige Symposiumsteilnehmer. «Ja», entgegnet Hussain, «und zwar umgesetzt in eine Form, die Menschen begreifen.» Beim Stichwort Kamasutra ist das Publikum wieder hellwach.

Management als Massenberuf

Kamasutra, Meditation, Schwarmintelligenz und Extrembergsteigen – es braucht Zeit, um die zahlreichen Eindrücke, Anleitungen und Philosophien eines solchen Symposiums zu verdauen. Doch spätestens auf dem Nachhauseweg erkennt man, dass sich all die unterschiedlichen Theorien und Ansätze auf relativ simple Fragestellungen zurückführen lassen: «Wie arbeite ich mit anderen zusammen?», «Wie motiviert man seine Mitarbeiter?», «Wie soll man mit Vorurteilen umgehen?» und «Wie versetze ich mich in die Lage meines Gegenübers?». Es sind wichtige Fragen, denn sie bilden die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Doch lassen sich solche grundsätzlichen Eigenschaften und Fähigkeiten erlernen? «Ja», lautet die Antwort von Fredmund Malik, habilitierter Professor für Unternehmensführung der Universität St. Gallen, international angesehener Managementexperte und Bestsellerautor. Management müsse sogar erlernt werden, erläutert er in seinem Buch «Führen Leisten Leben». «Wir müssen für diesen Beruf ganz gewöhnliche Menschen nehmen, denn wir haben keine anderen – rein statistisch gesehen.» Management sei heute schliesslich ein Massenberuf.

Laut Christian Santschi, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Führungsausbildung (SVF), sind es vor allem die handwerklichen Komponenten, die sich relativ problemlos erlernen lassen. Schwieriger werde es allerdings bei der sogenannten Persönlichkeitsentwicklung: Dass eine Person mit relativ wenig Einfühlungsvermögen dank einem dreitägigen Kurs zu einem hoch-empathischen Menschen werde, sei wohl nicht der Normalfall. Ein solcher Prozess erfordert laut Santschi viel Zeit.

Warum man morgens aufsteht

Unverkennbar ist gleichzeitig die Tendenz, die Managementlehre zu verwissenschaftlichen. Doch braucht es tatsächlich ausgeklügelte Managementkonzepte? Als ausgesprochen praxisbezogen bleiben den Symposiumsteilnehmern jedenfalls die Ausführungen von Andreas Wieland, dem Konzernchef der Firma Hamilton Bonaduz, in Erinnerung. «Ein hungriges Wolfsrudel, das einen Hirsch entdeckt, müssen Sie nicht motivieren. Ihre Aufgabe als Führungskraft besteht darin, den Hirsch zu erkennen», hatte der Bündner den amüsierten Teilnehmern erklärt. «Sie müssen wissen, weshalb Sie am Morgen aufstehen», lautet sein einfacher Leitspruch.

Auch folgende Aussage blieb haften: «Wenn ein Geschäftsleiter bei Hamilton einen talentierten Mitarbeiter verliert, kann er sich 25% seines Bonus ans Bein streichen.» Ein eher unkonventioneller Ansatz, der allerdings darauf schliessen lässt, dass es sich beim Spruch «unsere Mitarbeiter sind uns wichtig» in der Führungsphilosophie Wielands nicht um eine inhaltslose Floskel handelt. Und auch Sätze wie «Menschlichkeit ist kein Kostenfaktor, sondern ein Erfolgsfaktor», nimmt man ihm ab. Es sind vor allem diese lebhaften, aus dem Alltag gegriffenen Schilderungen, die der am Symposium anwesenden Journalistin auf der Heimreise durch den Kopf gehen. Sie sind authentisch – ein wohl unterschätztes und schwer vermittelbares Erfolgsrezept guter Führung.