Das Bildungssystem: eine vertane Chance für Gerechtigkeit und Demokratie
Millionen von Menschen in Kitas, Schulen und Universitäten sind täglich mit einem Bildungssystem konfrontiert, das an allen Ecken und Enden nicht funktioniert. Es braucht daher endlich die richtigen Rahmenbedingungen für eine gerechte und zukunftsfähige Bildungswende.
08.05.2024 Bundesweit Artikel Martina Zilla SeifertHeute hatte ich eine besondere Begegnung in einem öffentlichen Verkehrsmittel in Duisburg mit einem Jungen, der in die Grundschule geht. Es war 10 Uhr, und der Junge stieg mit einer Tasche voller gesammelter leerer Plastikflaschen ein. Als ich ihn fragte, ob er nicht in der Schule sein müsste, antwortete er mir, dass er schon um 9.30 Uhr Schulschluss gehabt hätte. Er bat mich dann um einen Euro und auf meine Frage, ob er öfter Erwachsene um Geld bäte, versicherte er mir, dass er nur mich das fragen würde.
Die Begegnung hängt mir nach, denn in ihr spiegelt sich so viel wider, woran es in unserer Stadt krankt: zu wenige Stunden in den Bildungseinrichtungen, zu wenige Lehrer:innen, zu viele Kinder, die keinen ausreichenden Zugang zu Bildung haben, keine Steuerung für Schulen und Kitas, die händeringend nach Personal suchen.
Schüler:innen, die in ökonomisch angestrengter Nachbarschaft leben, werden abgehängt
Schüler:innen der Schulen in herausfordernder Lage, – die PISA-Studie zeigt es immer wieder – haben weitaus geringere Bildungschancen. Duisburg ist eine Stadt, in der noch nicht einmal alle Kinder das Recht auf Bildung wahrnehmen können, weil es z. B. gar nicht für alle Schüler:innen einen Schulplatz gibt.
Als Schulleiterin in der Green-Gesamtschule konnte ich über Jahre beobachten, was die Armut und die nur sehr eingeschränkte Reaktionsmöglichkeit der Schule darauf mit den Menschen – Schüler:innen, Eltern aber auch Lehrkräften – macht. Es stellt sich ein Gefühl des „Abgehängtseins“, der Stigmatisierung, der Ausgrenzung ein. Auch eine Lehrkraft an einer prekären Schule fühlt sich deutlich anders als beispielsweise der Studienrat bzw. die Studienrätin an einem Gymnasium, weil die Armut und alles, was damit zusammenhängt, psychisch und physisch für alle belastend ist. Kein Wunder, dass immer mehr Lehrer:innen gerade dieser Schulen das System verlassen oder aber nach dem Referendariat den Beruf nicht ausüben wollen, und arme Kommunen große Mühe haben, offene Stellen an ihren Schulen zu besetzen. An dieser Situation wird auch das aufgelegte „Startchancen-Programm" nichts ändern, das sich so liest, als wolle man mit mehr Geld dringend das Alte bewahren. Viel Geld wird es nicht richten, wenn sich z. B. an den Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte nichts ändert.
Auch die Schulform Gymnasium scheint an ihre Grenzen zu kommen, wie die kürzlich vom Philologenverband durchgeführte Befragung zum Thema „Gewalt gegenüber Lehrkräften“ zeigt. Mein Fazit dazu: Bildungseinrichtungen müssen sich grundlegend verändern, wenn wir in die Köpfe und Herzen der Menschen vordringen wollen, die wir begleiten.
Bildungskrise trifft Demokratiekrise – es betrifft uns alle
Als ich mich einmal mit dem Schulträger über die mangelnde Unterstützung stritt – bauliche Sanierungsmaßnahmen wurden z.B. eher an den Gymnasien durchgeführt als an armen Schulen –, warnte ich, dass die Menschen in den Quartieren das irgendwann merken und durch ihr Wahlverhalten quittieren würden. Die Zahl der Menschen, die bereit sind, rechts zu wählen, hat in den entsprechenden Quartieren in Duisburg deutlich zugenommen.
Allein bin ich mit meinen Erfahrungen nicht, denn Millionen von Menschen in Kitas, Schulen und Universitäten sind tagtäglich quer durch alle Einrichtungen mit einem Bildungssystem konfrontiert, das an allen Ecken und Enden an erheblichem Mangel leidet: Es fehlen bundesweit Zehntausende Erzieher:innen und Lehrkräfte sowie Hunderttausende Kita-Plätze. 50.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss, der wissenschaftliche Nachwuchs in den Universitäten hangelt sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag und Studierende erleben kaum lernförderliche Lernsettings. Überall wird an dringend notwendigen Investitionen in das marode System gespart – und so wird zukunftsorientierte, inklusive und gerechte Bildung immer wieder verhindert. Aus meiner Perspektive wird so der Zusammenhalt in unserer Demokratie gefährdet, wie ja alle Wahlprognosen überaus deutlich zeigen. Schule ist der Ort, an dem Menschen über Jahre zusammenkommen. Wären Schulen anregungsreiche Lebensräume, in denen sich Menschen ausprobieren, lernen und auch konstruktiv streiten lernten, würden sie dem Rechtsruck etwas entgegensetzen können.
Dazu müssten Lehrkräfte die Möglichkeit haben, in den Schulen die Schule weiterzudenken, pädagogisch sinnvolle Entscheidungen treffen zu dürfen, die sich jenseits von überprüfbaren Kompetenzen in sinnstiftenden Lernarrangements wie Projekt- und Kooperatives Lernen bewegen sollten. Wenn dazu noch die ästhetische Bildung kommt, die Erfahrung auf der Theaterbühne oder aber das Sich-Ausleben über Musik, dann wären wir ein Stück weiter. Es müssen also die Arbeitszeiten der Lehrkräfte, die Lerninhalte und Fächer, die Taktung des Schultages, die Notengebung und die Architektur der Schulen auf den Prüfstand gestellt werden.
Gute Rahmenbedingungen schaffen
Mir geht es darum, die Politik zu einem konstruktiven Diskurs aufzufordern, bei dem es auch um die weitere Perspektive der Bundesrepublik Deutschland geht. Denn: Zu viele Menschen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, Erzieher:innen, Schüler:innen, Eltern, Lehrkräfte und weitere Bildungsbetroffene kämpfen um mehr Mitbestimmung und wollen ihre Expertise einbringen, um Lösungen für eine gute und gerechte Bildung zu bewirken. Dass diese Lösungen dringend gefunden werden, ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt sichergestellt werden kann.
Forderungen für eine zukunftsfähige, gerechte und inklusive Bildungswende:
- ein Sondervermögen Bildung sowie ausreichende Finanzierung für Kita und Schule
- eine Ausbildungsoffensive für Lehrer:innen und Erzieher:innen
- die Schule zukunftsfähig und inklusiv zu machen
- einen echten Bildungsgipfel auf Augenhöhe
Es geht darum, die Bildungseinrichtungen zu kreativen Laboren zu machen, damit z. B. Schüler:innen die Schule, wie es in der letzten SINUS-Jugendstudie nachzulesen ist, nicht länger als „statisches und kaum gestaltbares System [erleben], in dem Mitbestimmung abseits der institutionalisierten Schülervertretung strukturell eher wenig Raum gegeben wird”.
Aus all diesen Gründen engagiere ich mich in dem überparteilichen von Gewerkschaften, Verbänden und Gruppierungen aus der Zivilgesellschaft getragenen Bündnis „Bildungswende Jetzt!“. Seit rund einem Jahr bringt es mit seinen über 200 Unterzeichner:innen vier zentrale Forderungen auf die Straße (siehe Infokasten) und beschreibt damit die Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige, gerechte und inklusive Bildungswende.
Dabei stehen auch Nachsteuerungen in Bezug auf die Hemmnisse im Bildungssystem bezüglich des Föderalismus auf dem Prüfstand. Die Kultusminister:innenkonferenz zeigt immer wieder, dass hier wenige Steuerungsmechanismen vorhanden sind, um dringende Reformen anzustoßen. Dringend bedarf es z.B. einer Ausbildungsoffensive für Erzieher:innen und Lehrkräfte, um gute Bildung und Mitgestaltung für alle zu ermöglichen.
An Ideen für eine gerechte und demokratische Bildung mangelt es nicht, alles liegt auf dem Tisch. Es geht also lediglich darum, gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
- STARTCHANCEN-Programm: Rund 215 Mio. Euro für benachteiligte Kinder
- VBE: Ganztag als Chance für Bildungsgerechtigkeit
- „Demokratie und Inklusion sind im Grunde zwei Seiten derselben Medaille.“
2 Kommentare
Ich musste den Anfang des Artikels mehrmals lesen, um nachzuvollziehen, dass die Autorin ernsthaft dermaßen naiv ist, dass sie einem Kind glaubt, dass es tatsächlich offiziell um 9:30 Uhr Schulschluss hatte. Das wären maximal 2 Schulstunden an dem Tag gewesen. In NRW gibt es die verlässliche Halbtagsschule. Betreuung wäre also bis 13:00 Uhr gegeben. In Ganztagsschule auch bis nachmittags. Selbst wenn Kinder bzw. Eltern diese Angebote nicht wahrnehmen, wird keine Schule die mindestens 20 Schulstunden, die bereits ein Erstklässler hat, so verteilen, dass an einem Tag nur zwei davon sind.
In den Forderungen stimme ich mit der Autorin überein.