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MIT Technology Review News

Google und Harvard Wissenschaftler enthüllen höchstauflösendes Bild des menschlichen Gehirns

Eine kleine Gehirnprobe wurde in 5.000 Teile zerlegt und mithilfe künstlicher Intelligenz wieder zusammengesetzt. Die Entdeckungen haben sogar Expert:innen überrascht. Die Karte ist auf der Plattform Neuroglancer frei zugänglich.

Von MIT Technology Review Online
4 Min.
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Diese Version der 3D-Karte eines menschlichen Hirns zeigt erregende Neuronen, die nach ihrer Tiefe von der Oberfläche des Gehirns eingefärbt sind. Blaue Neuronen sind diejenigen, die der Oberfläche am nächsten sind, und fuchsiafarbene markieren die innerste Schicht. Die Probe ist etwa 3 mm breit. (Grafik: Google Research & Lichtman Lab, Harvard University / D. Berger (rendering))

Ein Atlas des menschlichen Gehirns ist der Traum der Neurowissenschaft. Dem sind Wissenschaftler:innen von Harvard und Google jetzt ein Stück näher gekommen. Sie haben eine 3D-Karte im Nanomaßstab von einem einzigen Kubikmillimeter des menschlichen Gehirns erstellt. Obwohl diese nur einen Bruchteil des Organs abdeckt – ein ganzes Gehirn ist eine Million Mal größer – enthält allein dieses Stück etwa 57.000 Zellen, 230 Millimeter Blutgefäße und rund 150 Millionen Synapsen. Es handelt sich um das bis dato am höchsten auflösende Bild des menschlichen Gehirns.

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Um eine so detaillierte Karte zu erstellen, hat das Team eine Gewebeprobe in 5.000 Scheiben geschnitten und diese mit einem Hochgeschwindigkeits-Elektronenmikroskop gescannt. Dann kam ein maschinelles Lernmodell zum Einsatz, um die Schnitte elektronisch wieder zusammenzufügen und zu „beschriften“. Allein der Rohdatensatz nahm 1,4 Petabyte ein. „Dies ist wahrscheinlich die rechenintensivste Arbeit in der gesamten Neurowissenschaft“, sagt Michael Hawrylycz, Neurowissenschaftler am Allen Institute for Brain Science, der nicht an der Forschung beteiligt war. „Es ist eine Herkulesaufgabe.“

Alle bisherigen Hirnatlanten enthalten Daten mit viel geringerer Auflösung. Auf der Nanoskala können die Forscher:innen die Verdrahtung des Gehirns dagegen Neuron für Neuron bis hin zu den Synapsen, den Stellen, an denen sie sich verbinden, nachzeichnen. „Um wirklich zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert, wie es Informationen verarbeitet und Erinnerungen speichert, brauchen wir letztlich eine Karte mit dieser Auflösung“, sagt Viren Jain, ein leitender Forscher bei Google und Mitautor der im Fachmagazin Science veröffentlichten Arbeit. Der Datensatz selbst erschien bereits 2021.

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Hürden auf dem Weg zum Gehirn-Atlas

Gehirnatlanten gibt es in verschiedenen Ausführungen. Einige zeigen, wie die Zellen organisiert sind. Andere behandeln die sogenannte Genexpression und konzentrieren sich dabei auf die Verbindungen zwischen den Zellen – ein Forschungsbereich, der auch „Connectomics“ genannt wird. Die äußerste Schicht des Gehirns enthält etwa 16 Milliarden Neuronen, die miteinander verbunden sind und Billionen von Verbindungen bilden. Ein einzelnes Neuron kann Informationen von Hunderten oder sogar Tausenden anderer Neuronen empfangen und Informationen an eine ähnliche Anzahl senden. Das macht das Aufspüren dieser Verbindungen zu einer äußerst komplexen Aufgabe, selbst wenn es sich nur um einen kleinen Teil des Gehirns handelt.

Um diese Karte zu erstellen, musste das Team eine Reihe von Hürden überwinden. Das erste Problem bestand darin, eine Probe von Gehirngewebe zu finden. Das Gehirn verfällt nach dem Tod schnell, sodass Leichengewebe nicht infrage kam. Stattdessen verwendete das Team ein Gewebestück, das einer Frau mit Epilepsie während einer Hirnoperation, die dazu dienen sollte, ihre Anfälle zu kontrollieren, entnommen worden war.

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Nachdem die Forscher die Probe erhalten hatten, mussten sie sie sorgfältig in Harz konservieren, damit sie in Scheiben geschnitten werden konnte. Jede Scheibe war etwa ein Tausendstel so dick wie ein menschliches Haar. Anschließend wurden die Schnitte mit einem speziell für dieses Projekt entwickelten Hochgeschwindigkeits-Elektronenmikroskop fotografiert.

Als nächstes kam die rechnerische Herausforderung. „Man hat bildlich gesprochen all diese Drähte, die in drei Dimensionen verlaufen und alle möglichen Verbindungen herstellen“, sagt Viren Jain. Das Google-Team setzte maschinelles Lernen ein, um die Scheiben wieder zusammenzufügen, sie auszurichten und die „Drähte“ farblich zu kodieren und die Verbindungen zu finden. Das ist schwieriger, als es klingt. „Wenn man einen einzigen Fehler macht, sind alle weiteren Verbindungen falsch“, sagt Jain.

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„Die Fähigkeit, eine so tiefe Rekonstruktion einer beliebigen menschlichen Gehirnprobe zu erhalten, ist ein wichtiger Fortschritt“, sagt Seth Ament, Neurowissenschaftler an der Universität von Maryland. Die Karte sei „das, was der Wahrheit am nächsten kommt, die wir im Moment bekommen können“. Er gibt aber auch zu bedenken, dass es sich um eine einzelne Gehirnprobe handelt, die von einer einzigen Person stammt.

Grundlage für weitere Hirnforschung

Die Karte, die auf einer Webplattform namens Neuroglancer frei zugänglich ist, soll anderen Forscher:innen als Ressource für ihre eigenen Entdeckungen dienen. „Jetzt kann jeder, der sich für das Studium des menschlichen Kortex in dieser Detailtiefe interessiert, selbst in die Daten einsteigen. Man kann bestimmte Strukturen überprüfen, um sicherzustellen, dass alles korrekt ist, und dann eigene Ergebnisse veröffentlichen“, sagt Jain.

Das Team hat bereits einige Überraschungen entdeckt. So bildeten einige der schlauchartigen Nervenfasern, die Signale von einem Neuron zum nächsten übertragen, „Wirbel“, also Stellen, an denen sie sich um sich selbst drehten. Normalerweise bilden diese Axone eine einzige Synapse, um Informationen an die nächste Zelle zu übertragen. Das Team identifizierte einzelne Axone, die wiederholt Verbindungen bildeten – in einigen Fällen 50 separate Synapsen. Warum das so ist, ist noch nicht klar, aber die starken Verbindungen könnten dazu beitragen, sehr schnelle oder starke Reaktionen auf bestimmte Reize zu ermöglichen, sagt Jain. „Es ist eine sehr einfache Erkenntnis über die Organisation des menschlichen Kortex“, sagt er. Aber „wir wussten das vorher nicht, weil wir keine Karten mit dieser Auflösung hatten“.

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Der Datensatz sei voller Überraschungen, bestätigt Jeff Lichtman, Neurowissenschaftler an der Harvard University, der die Studie mit geleitet hat. „Wir fanden so viele Dinge, die nicht mit dem übereinstimmten, was man in den bisherigen Lehrbüchern lesen konnte.“

 

Die Autorin des Textes ist Cassandra Willyard. Sie ist selbstständige Journalistin in den USA. Sie schreibt regelmäßig für die US-amerikanische Ausgabe von MIT Technology Review und deckt dort den Bereich Medizin ab.
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