«Nestlé tötet Babys»: Vor 50 Jahren brachte eine kleine Broschüre von Berner Aktivisten den Nahrungsmittelkonzern in grosse Bedrängnis

Dass das Unternehmen aus Vevey noch heute ein Lieblingsfeind von Kapitalismuskritikern ist, hat viel mit einem Gerichtsprozess in den 1970er Jahren zu tun. 50 Jahre später gehört das Anprangern von Grosskonzernen zum Standardrepertoire von NGO.

Sergio Aiolfi 8 min
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Kritisiert wurden bei Nestlé und anderen Herstellern auch die Vermarktungsmethoden von Babynahrung.

Kritisiert wurden bei Nestlé und anderen Herstellern auch die Vermarktungsmethoden von Babynahrung.

Schweizerisches Sozialarchiv

Es war ein Kampf David gegen Goliath. Der Grosskonzern Nestlé hatte gegen eine kleine Berner Organisation namens Arbeitsgruppe Dritte Welt Klage wegen Ehrverletzung erhoben und einen Prozess vor dem Amtsgericht Bern erwirkt.

Im Unterschied zur alttestamentlichen Geschichte gewann Goliath den Kampf, doch die Aktivisten waren gleichwohl die moralischen Sieger. Als solche fühlen sich Kritiker des Konzerns bis heute, wenn sie irgendeine seiner Geschäftspraktiken anprangern.

Zwar verurteilte der Richter die Arbeitsgruppe, stellte in seiner mündlichen Urteilsbegründung aber klar, dass es am Kläger Nestlé sei, sein Verhalten zu ändern. Der Schuldspruch für die Angeklagten, erklärte er, sei «kein Freispruch für Nestlé»; damit war der Kläger unversehens zum Angeklagten geworden.

Gegenstand des Streits war eine dünne Broschüre mit dem Titel «Nestlé tötet Babys», die im Mai 1974 erschienen war. Es war die deutschsprachige Übersetzung von «The Baby Killer», einer Schrift, welche die englische NGO «War on Want» zwei Monate zuvor veröffentlicht hatte. Darin wurden die Drittweltaktivitäten der grossen Hersteller von Babymilchpulver kritisiert, zu denen nebst Nestlé auch britische Firmen wie Cow & Gate oder Unigate gehörten.

Die englischen Autoren warfen den Unternehmen vor, beim Verkauf ihrer Produkte die oft prekären hygienischen Verhältnisse in Entwicklungsländern zu ignorieren. Diese führten leicht zur Verschmutzung der Nahrung und zur Erkrankung der Kleinkinder. Angeprangert wurde auch der hohe Preis der Produkte. Ausserdem würden mit fragwürdigen Werbemethoden junge Mütter vom Stillen abgehalten.

Zurechtgebogene Botschaft

Die Berner Arbeitsgruppe hatte sich bei ihrer Übersetzung an den englischen Originaltext gehalten, nahm allerdings Anpassungen vor, welche die Aussagen von «The Baby Killer» veränderten. Die «War on Want»-Autoren hatten in ihrem Vorwort geschrieben: «Babys in der Dritten Welt sterben, weil ihre Mütter sie mit Säuglingsmilch westlicher Machart füttern.» Gleichzeitig hatten sie aber auch betont: «Mit diesem Bericht soll nicht bewiesen werden, dass Babymilch Babys tötet.»

Dieser zweite Satz fehlte in der deutschen Übersetzung, da er dem anklägerischen Titel der Schweizer Broschüre allzu offensichtlich widersprochen hätte. Die Berner Arbeitsgruppe war darauf aus, im Speziellen Nestlé herauszufordern, selbst wenn sie dabei tricksen und die Botschaft von «War on Want» zurechtbiegen musste.

Erwartungsgemäss trat Nestlé auf die Kampfansage ein und klagte gegen die Gruppe wegen Ehrverletzung und übler Nachrede; Letzteres, weil im Vorwort der Berner Broschüre der Konzern auch noch der «unethischen und unmoralischen Tätigkeit» bezichtigt worden war. Ausserdem wurde Nestlé für den Tod oder die geistige oder körperliche Schädigung Tausender Kinder verantwortlich gemacht.

Aus Sicht von Nestlé waren diese Anschuldigungen haltlos und aus der Luft gegriffen; und die Firmenverantwortlichen waren überzeugt, dass es ein Leichtes sein werde, den Gerichtsfall zu gewinnen. Siegesgewiss offerierten sie der Arbeitsgruppe einen, wie sie meinten, grosszügigen Vergleich: Die Aktivisten sollten sich «in aller Form gegenüber Nestlé entschuldigen», die Ehrverletzung bedauern und die Verfahrenskosten übernehmen. Unter diesen Bedingungen wäre Nestlé bereit gewesen, die Klage zurückzuziehen.

Dünne Broschüre, grosse Wirkung: Die von der Arbeitsgruppe Dritte Welt aus dem englischen Original übersetzte Schrift über die Praktiken der Babymilchfirmen.

Dünne Broschüre, grosse Wirkung: Die von der Arbeitsgruppe Dritte Welt aus dem englischen Original übersetzte Schrift über die Praktiken der Babymilchfirmen.

PD

Die Aktivisten dachten nicht daran, auf das Angebot einzugehen. Sie hatten anderes im Sinn: «Wir werden Nestlés Prozess gegen uns zum Prozess gegen Nestlé machen», erklärten sie, und das gelang ihnen tatsächlich. Im Verfahren vor dem Amtsgericht, das im November 1975 stattfand und von zahlreichen Medien, unter anderem der NZZ, verfolgt wurde, war der Konzern von Beginn weg in der Defensive.

Zu seiner Verteidigung machte er geltend, Babymilch leiste einen unentbehrlichen Beitrag zur Bekämpfung der Unterernährung in der Dritten Welt und Mütter würden in keiner Weise vom Stillen abgehalten. Auch bemühe man sich stets um die korrekte Zubereitung der Milch.

Mit Unterstützung von Moritz Leuenberger

Demgegenüber argumentierte die Arbeitsgruppe, vertreten durch den Zürcher Anwalt (und späteren Bundesrat) Moritz Leuenberger, dass zwischen der «aggressiven Werbung» für Babynahrung und dem Tod von Säuglingen eine «klar rekonstruierbare Kausalkette» bestehe. Diese beweise, dass Nestlé Babys töte. Gegen den Generalverdacht, der Konzern verbreite in der Dritten Welt nichts als Elend, liess sich mit der differenzierteren Sichtweise, um die Nestlé bemüht war, wenig ausrichten.

Immerhin beurteilte der Richter den Titel der Broschüre als ehrverletzend, da damit suggeriert werde, der Konzern habe vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt; damit seien die Aktivisten zu weit gegangen, meinte er. Die Vertreter der Arbeitsgruppe, in der NZZ als «linksstehende Jungakademiker» bezeichnet, wurden zu Bussen von je 300 Franken sowie zur Bezahlung eines Teils der Verfahrenskosten verurteilt.

Aber auch Nestlé kam nicht ungeschoren davon. Der Richter bezeichnete die Tätigkeiten des Konzerns in den Entwicklungsländern als problematisch und erklärte: «Nestlé muss seine Werbepraktiken grundsätzlich überdenken, wenn es sich in Zukunft den Vorwurf des unmoralischen und unethischen Verhaltens ersparen will.»

Mitglieder der Arbeitsgruppe Dritte Welt, die von Nestlé angeklagt wurden, vor dem Berner Gerichtsgebäude. Mit dabei war auch der spätere Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf Strahm (vordere Reihe, Zweiter von links).

Mitglieder der Arbeitsgruppe Dritte Welt, die von Nestlé angeklagt wurden, vor dem Berner Gerichtsgebäude. Mit dabei war auch der spätere Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf Strahm (vordere Reihe, Zweiter von links).

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Überfordertes Management

Der Gerichtsfall war nicht nur wegen des Urteils und der richterlichen Ermahnung an den Kläger bemerkenswert, sondern auch wegen der neuen Art von Öffentlichkeit, die dadurch geschaffen wurde. Es entstand ein Forum, in dem das private kommerzielle Verhalten der Firma vor aller Welt verhandelt und kritisiert wurde.

Heute gehören solche Schauprozesse gegen Konzerne, sei es vor Gericht oder einfach durch Anprangerung in der Öffentlichkeit, zum Standardrepertoire von NGO und sind ein wichtiger Faktor im Kampf um Aufmerksamkeit und Spendengelder.

Für Nestlé war eine solche Situation damals ungewohnt, und das Management hatte Mühe, damit zurechtzukommen. Zuvor hatte der Konzern nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit einen guten Ruf genossen. Dank seinen Babyprodukten, die Säuglinge mit zusätzlichen Kalorien und Nährwerten versorgten und so, wie man annahm, in der Dritten Welt die Kindersterblichkeit verringerten, galt Nestlé als eine Art kommerzielle Variante des Roten Kreuzes.

Zum Image der Unbescholtenheit hatte auch die Kooperation mit der Protein Advisory Group (PAG), einer Uno-Organisation, ab Anfang der 1970er Jahre beigetragen. Dank dieser Verbindung waren Nestlés Aktivitäten in Entwicklungsländern quasi von höchster Stelle gutgeheissen worden. Die PAG unterstrich in einem Dokument von 1972 ausdrücklich die wichtige Rolle, die Babymilch in Entwicklungsländern spiele; und die Hersteller wurden ermutigt, ihre Produkte via Massenmedien zu bewerben, um die Breitenwirkung zu erhöhen.

Von der Uno-Organisation als Partner eingestuft, war es für Nestlé unverständlich, wieso man auf einmal von einer NGO an den Pranger gestellt wurde. Dass die hygienischen Bedingungen und verschmutztes Wasser ein Problem darstellen konnten, sah man ein; das waren aber keine Hindernisse, die sich nicht mit einigen praktischen Massnahmen überwinden liessen.

Nestlé wollte nicht, dass Aussenstehende Einfluss auf die kommerziellen Aktivitäten nehmen. Das Babymilchgeschäft galt als strikt privatwirtschaftliche Angelegenheit, wie eine von «War on Want» zitierte Stellungnahme des Konzerns zeigt: «Wir vermarkten ein Produkt, aber es kann nicht unsere Aufgabe sein, Mütter davon abzuhalten, das Produkt zu kaufen.»

Entscheidungen über die Marktstrategie waren Sache des Unternehmens, und die sozialen Aspekte des Geschäfts waren nicht etwas, worüber man mit einer NGO verhandeln wollte.

Wird Milchpulver mit verschmutztem Wasser zubereitet, kann das Babys krank machen. Aufnahme aus Afrika, zirka 1975.

Wird Milchpulver mit verschmutztem Wasser zubereitet, kann das Babys krank machen. Aufnahme aus Afrika, zirka 1975.

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«Herzlos und geldgierig»

Das durch den Berner Prozess geschaffene öffentliche Interesse am privatwirtschaftlichen Gebaren des Konzerns erreichte eine neue Dimension, als 1977 die Infant Formula Action Coalition (Infact – «infant formula» steht für Muttermilchersatz), eine amerikanische NGO, zum Boykott von Nestlé aufrief.

Die gegen den Konzern gerichteten Vorwürfe waren im Wesentlichen dieselben, die schon «War on Want» und die Berner Arbeitsgruppe erhoben hatten: problematische Hygieneverhältnisse, hohe Preise, aggressive Werbung.

Der von Infact angeschlagene Ton war aber deutlich schärfer als jener der Europäer. Die NGO warf Nestlé vor, Profite höher zu werten als die Gesundheit von Kindern, und schrieb: «Zehn Millionen Babys in der Dritten Welt verhungern aufgrund des herzlosen, geldgierigen Handelns mächtiger multinationaler Konzerne.» Für diese monströse Unterstellung gab es keine Belege, aber sie genügte, um die öffentliche Empörung weiter zu schüren.

Nestlé stand vor einem grösseren Problem. Da die Kampagne auf die Ächtung sämtlicher Nestlé-Produkte abzielte, drohte nebst dem Imageverlust ebenso eine Schädigung des Geschäfts. Die Lage war umso dramatischer, als sich auch kirchliche Kreise der NGO anschlossen, was die Wirksamkeit des Boykotts verstärkte.

Der Konzern sah sich radikalen Forderungen gegenüber. Infact verlangte einen Stopp aller Werbung für Babymilch. Ausserdem wünschten die Aktivisten Einsicht in die Nestlé-Bücher; sie wollten Angaben zu Reklameaufwendungen, Margen und zur Preispolitik – Forderungen, auf die der Konzern selbstredend nicht eintrat.

Die besten Instruktionen zur Milchzubereitung nützen nichts, wenn die hygienischen Verhältnisse nicht stimmen oder die Schritte nicht befolgt werden.

Die besten Instruktionen zur Milchzubereitung nützen nichts, wenn die hygienischen Verhältnisse nicht stimmen oder die Schritte nicht befolgt werden.

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Von Kennedy in die Zange genommen

Das Management betonte wie zuvor den privatwirtschaftlichen Charakter des Geschäfts. Das zeigte sich besonders bei einer öffentlichen Anhörung zum Thema Babymilch vor dem amerikanischen Senat im Mai 1978, die von den Aktivisten angeregt worden war und bei der der Senator Edward Kennedy den Vorsitz hatte.

Auf die Frage Kennedys, ob das Unternehmen beim Verkauf von Babymilch denn nicht dafür sorgen müsse, dass die hygienischen Verhältnisse angemessen seien, antwortete der Nestlé-Vertreter: «No, we can’t have this responsibility, sir» – eine Aussage, die umgehend für neue Empörung sorgte.

Eine Wende zum Besseren kam für Nestlé erst, als 1981 in Zusammenarbeit mit der Uno-Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Kodex erarbeitet wurde, der das Marketingverhalten aller Babymilchhersteller regelte. Die Übereinkunft hielt fest, dass Muttermilch bei der Ernährung von Säuglingen Priorität habe, dass aber auch der Muttermilchersatz eine «legitime» Rolle spiele.

Der Kodex bestimmte zudem, über welche kommerziellen und nichtkommerziellen Kanäle die Produkte vertrieben werden durften. Und man einigte sich darauf, dass die Werbung das Stillen von Kleinkindern in keiner Weise verhindern dürfe.

Der WHO-Kodex hatte für Nestlé den entscheidenden Vorteil, dass mit Infact ein Kompromiss gefunden werden konnte, ohne dass man mit den Aktivisten selbst hätte verhandeln müssen. Damit konnte das Unternehmen die geforderte soziale Verantwortung übernehmen und gleichzeitig den privaten Charakter der Unternehmensentscheide wahren.

Damit war der Boykott allerdings noch nicht beendet. Die Kodex-Richtlinien waren auf allgemeine Weise formuliert und liessen Raum für Interpretationen, was die Aktivisten dazu nutzten, Nestlé immer wieder Regelverstösse vorzuwerfen. Die Streitigkeiten wurden erst beigelegt, nachdem sich Nestlé zu Verbesserungsmassnahmen bereit erklärt und sich so die Unterstützung der Kirchenvertreter gesichert hatte. Schliesslich musste selbst Infact Nestlé zähneknirschend bescheinigen, «ein Vorbild für die ganze Branche» zu sein. 1984 wurde der Boykott für beendet erklärt.

Das Milchpulver von Nestlé wurde auch in Gesundheitseinrichtungen beworben. Bild aus Afrika, um 1975.

Das Milchpulver von Nestlé wurde auch in Gesundheitseinrichtungen beworben. Bild aus Afrika, um 1975.

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Heute befolgt Nestlé eine Vielzahl von Direktiven, die sicherstellen sollen, dass die Kodex-Vorgaben eingehalten werden. Dazu gehören unter anderem das Nestlé-WHO-Code-Management-System, das Einhalten der Directive on Infant Formula der EU oder das Befolgen des FTSE4Good-Indexes. Ausserdem wurde mit «Tell Us» eine Stelle eingerichtet, bei der Aussenstehende Hinweise auf allfällige Regelverletzungen von Nestlé deponieren können. Der Compliance-Aufwand ist beträchtlich.

Für den Konzern entscheidend ist jedoch, dass damit die Deutungshoheit über die sozialen Aspekte des Geschäfts, die ihm von den NGO streitig gemacht worden war, wieder unter die eigene Kontrolle hatte gebracht werden können.

Doch die Babymilchaffäre ist auch 50 Jahre nach dem Urteil im Berner Amtsgericht noch tief im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert und das Unternehmen in den Augen seiner Kritiker zunächst einmal schuldig bis zum Gegenbeweis.

Entsprechendes Echo lösen deshalb jeweils neue Vorwürfe aus. So zum Beispiel die jüngst aufgeflammte Kontroverse um den Zuckergehalt von Nestlé-Babynahrung in Schwellen- und Entwicklungsländern.

Aber auch die von Nestlé-Aktionären lancierte Debatte um «ungesunde» Produkte zeigt, dass Regulierungsfragen nie endgültig geklärt sind und dass der Kampf um die Frage, ob ein Geschäft sozial gut oder schlecht sei, immer wieder aufs Neue ausbrechen kann.

Quelle, unter anderem: John Dobbing (Hrsg.): Infant Feeding. Anatomy of a Controversy, 1973–1984. Springer-Verlag, London 1988.

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