Starkes Image, schwacher Yen: Japan feiert und fürchtet Tourismusrekorde

Als Schutz gegen die Auswüchse des jüngsten Tourismusbooms ergreifen Einwohner in einigen Topzielen Gegenmassnahmen. Die Regierung will den Regionaltourismus abseits der Massenrouten fördern. Die Hoffnung sind europäische Touristen.

Martin Koelling, Tokio 5 min
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Der Mount Fuji ist bei Touristen ein besonders beliebtes Fotosujet.

Der Mount Fuji ist bei Touristen ein besonders beliebtes Fotosujet.

Kimimasa Mayama / EPA

Japans alte Kaiserstadt Kyoto sorgt bei ausländischen Touristen für einen Schock. Lange zogen die kleinen, von hölzernen Häusern gesäumten Gassen im traditionellen Vergnügungsviertel Gion Heerscharen von Touristen an. Denn dort leben und arbeiten Kyotos berühmte Geishas und ihre Auszubildenden, die Maikos. Nun wurde den Gästen aus Übersee der Zutritt zu den privaten Gassen verboten. Isokazu Ota, ein Mitglied des Anwohnerrats, sagte Reportern: «Wir wollen das nicht tun, aber wir sind verzweifelt.»

Der Grund sei eine Welle ausländischer Touristen, von denen sich einige für japanische Verhältnisse wie Paparazzi verhielten, kritisiert Ota, Besitzer eines chinesischen Restaurants, der seit Jahren für die Gemeinschaft spricht. Die Anwohner stören sich daran, dass viele Touristen den traditionellen Unterhaltungskünstlerinnen vor ihren Häusern auflauern, um sie zu fotografieren oder gar ihre Kimonos und – noch schlimmer – ihre hochgesteckten Frisuren zu berühren.

Auch die Stadtverwaltung Fujikawaguchiko am Fusse des Nationalbergs Fuji hat zu Selbstschutz gegriffen. Sie beschloss, an einer besonders beliebten Stelle an einer Strasse einen 2,5 Meter hohen Zaun zu errichten, um Touristen daran zu hindern, Fotos vom Fuji zu machen, der sich über einem Minisupermarkt erhebt.

Mit den Massnahmen wehren sich die Anwohner gegen die Folgen eines Plans, der zu gut aufgeht. Bis 2030 will die Regierung die Zahl der ausländischen Touristen von rund 33 Millionen vor der Corona-Pandemie auf 60 Millionen steigern. Seit die Grenzen Ende 2022 wieder vollständig geöffnet wurden, verzeichnet die älteste Industrienation Asiens, angetrieben von dem rapiden Wertverlust des Yen, nun neue Besucherrekorde.

Im September 2023 überstieg die Zahl ausländischer Reisender das Niveau vor der Pandemie. Im März betraten dann erstmals mehr als 3 Millionen Ausländer japanischen Boden, zu drei Vierteln aus Südkorea, Taiwan, China und Hongkong. Dies verstärkt die Sorgen über «Übertourismus», also grosses Gedränge an touristischen Hotspots wie Gion. Das Problem ist sogar schon zur Chefsache geworden.

Japans Regierungschef Fumio Kishida sagte Mitte April bei einem Ministertreffen zum Thema Tourismus: «Die dringende Aufgabe besteht darin, die ungleich verteilten Übernachtungen in den drei grossen Ballungsräumen auf die Regionen zu verteilen und schneller nachhaltige Tourismusregionen zu schaffen.»

Was er nicht sagt, aber meinen muss: Es geht der Regierung darum, mehr Touristen aus Europa und den USA anzuziehen statt wie bisher vor allem Touristen aus den asiatischen Nachbarländern. Denn die bisherige Struktur des Tourismus hintertreibt sein Anliegen.

Warum europäische Touristen in Japan gern gesehen sind

Thierry Maincent, Chef des Reiseunternehmens Japan Experience in Paris, eines der grössten europäischen Anbieter von Japanreisen, erklärt: «Es gibt drei Gruppen von Touristen mit unterschiedlichen Reisemustern.»

Die erste sind die Japaner selbst, die ohnehin die Mehrheit der Touristen ausmachen und nun wegen des schwachen Yen noch mehr daheim reisen als zuvor. Dann kämen die asiatischen Gäste, die oft nur für ein verlängertes Wochenende eine Destination besuchten. «Die Europäer hingegen bleiben meist zwei bis drei Wochen im Land und wollen verschiedene Orte auch ausserhalb der Metropolen erleben», berichtet der Franzose.

Tokios traditionelles Luxusviertel Ginza spiegelt das Phänomen wider. Vor den Boutiquen von Louis Vuitton, Gucci und Co. bilden sich wieder Schlangen. Gerade Chinesen nutzen Japanreisen, um sich einzudecken. «In China sind die Luxusartikel durch hohe Einfuhrzölle sehr teuer», erklärt eine Chinesin, die mit ihrem Mann ansteht. Auch sie bleiben nur für ein verlängertes Wochenende, in dem sie ein paar Attraktionen in Tokio und Kyoto abklappern.

Wirtschaftlich sind auch diese Touristen sicherlich willkommen. Die Kaufhäuser in den Metropolen verzeichnen steigende Umsätze. Auch die Hotelbranche kassiert ab. Fujita Kanko, eine Kette von mehr als 30 Budgethotels, verlangt mit durchschnittlich rund 13 500 Yen (80 Franken) pro Zimmer 20 Prozent mehr als vor der Pandemie. Die Gäste kommen trotzdem – aus Japan wie aus Übersee.

Aber Amerikaner und Europäer geben mehr Geld aus als Asiaten, weil sie länger bleiben. Während südkoreanische Reisende, die derzeit grösste Reisegruppe, pro Person laut dem japanischen Ministerium für Land, Infrastruktur und Verkehr pro Reise 101 110 Yen (605 Franken) in Japan ausgeben, sind es bei Deutschen mit 2016 Euro mehr als dreimal so viel.

Europäer sind die spendabelsten Touristen in Japan

Ausgaben pro Tourist nach grossen Herkunftsländern im Jahr 2023, in Yen (in Tausend)

Briten sind noch spendabler. Für Schweizer liegen keine gesonderten Daten vor. Und die Zahl der Europäer und Amerikaner wächst, laut der Nationalen Tourismusorganisation auch wegen des tatsächlich sehr schwachen Yen. Der reale effektive Wechselkurs des Yen, der mehrere Währungen und auch Inflationsdaten berücksichtigt, ist so schwach wie seit dem Beginn freier Wechselkurse Ende der 1960er Jahre nicht mehr.

Gerade Inhaber von Euro und Franken erfreuen sich dabei wachsender Kaufkraft: Gegenüber der europäischen Gemeinschaftswährung hat der Yen in den vergangenen vier Jahren rund 40 Prozent an Wert verloren. Dadurch wird das Land nicht nur für Luxusreisende, sondern auch für Rucksacktouristen attraktiv.

In Japan gibt es Luxusherbergen, in denen Besucher leicht mehrere tausend Franken pro Nacht bezahlen können. Aber in Backpacker- oder in Japans legendären Kapselhotels, die gestapelte Übernachtungswaben anbieten, zahlt man mit unter 4000 Yen umgerechnet weniger als auf einer Almhütte in der Schweiz.

Japan gilt weltweit als eine Topdestination

Aber die niedrig wirkenden Preise verstärken nur die generell hohe Attraktivität Japans als Reiseziel im Westen. Im Travel-&-Tourism-Development-Index des Weltwirtschaftsforums rangierte Japan dank seiner Kultur, Küche und Infrastruktur bereits 2021 unter den Top Ten der beliebtesten Reiseziele.

Einer derer, die dem Ruf gefolgt sind, ist Daniel Beringer, ein weitgereister Deutscher mit Wohnsitz in New York. «Tokio ist eine Weltmetropole, die ich schon lange besuchen wollte», sagt er nach seinem fünftägigen Besuch. 14 Millionen Einwohner, mehr als 50 Büro- und Wohnhochhäuser mit mehr als 40 Stockwerken, Stadtautobahnen, die sich in zwei oder drei Etagen auf Stelzen durch die Stadt schlängeln – schon die Dimensionen Tokios setzen die Stadt für ihn in eine Reihe mit Weltstädten wie New York, London und Paris.

Doch auch die weichen Faktoren lockten ihn. «Es ist keine Reise in ein anderes Land, sondern ein Sprung in eine parallele Dimension.» Vieles im Alltag sei irgendwie ähnlich und doch ganz anders. Als Europäer hat ihn vor allem das Nebeneinander von scheinbaren Gegensätzen fasziniert.

Auf der einen Seite empfand er die Stadt als sehr organisiert und extrem sauber, obwohl es kaum Abfalleimer gibt. Auf der anderen Seite gibt es krasse Gegenbeispiele. Sein gepflegtes Touristenhotel hat er versehentlich mitten im Vergnügungsviertel Kabukicho gebucht. Dort drängen sich japanische Game-Center, normale Restaurants, kleine Bars, aber eben auch Hostessen- und Host-Bars sowie dubiose Massagesalons. «Das war viel bunter und schräger als die Rotlichtviertel in Städten wie Paris oder Amsterdam», sagt der Deutsche.

Die kurze Erfüllung seines alten Reisetraums hat ihn nun zu einem Lieblingstouristen der japanischen Regierung gegen Übertourismus gemacht. «Ich will auf jeden Fall wiederkommen und mir mehr Zeit nehmen, um mehr vom Land zu sehen», sagt er.

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