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Alles zur Zukunft der Arbeit

„Warum sind Sie so ein Arschloch, Chef?“

Getty Images / Radius Images

Allen positiven Veränderungen der Arbeitswelt zum Trotz: Erniedrigende Vorstellungsgespräche und mobbende Chefs kommen immer noch viel zu häufig vor. Warum das so ist und was man dagegen tun könnte, erklärt Managementexperte Stefan Stern* in einem Gastbeitrag.

(Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der britischen Debattenplattform The Conversation veröffentlicht)

„Es ist dieser gefürchtete Moment am Ende eines Vorstellungsgesprächs, wenn Sie als Bewerber, nach einer halben Stunde relativer Gelassenheit, eingeladen sind, den Spieß umzudrehen und eine aufschlussreiche, interessante Frage zu stellen. Nun, Olivia Bland aus Manchester, 22, war bei ihrem jüngsten und mittlerweile schon berüchtigt gewordenen Vorstellungsgespräch möglicherweise versucht, ihr Gegenüber zu fragen: "Warum sind Sie so ein Arschloch?"

Wir sollten etwas Vorsicht walten lassen, bevor wir die Agentur „Web Applications UK“ und ihren Chef Craig Dean verurteilen. Nur eine Handvoll Leute waren bei diesem Vorstellungsgespräch im Raum. Der CEO hat sich öffentlich für den von ihm verursachten Schaden entschuldigt. Und das Unternehmen erklärte, dass es eine Untersuchung des Vorgangs eingeleitet habe und der Meinung sei, dass "kein Mobbing oder Einschüchterung stattgefunden hat".

Olivia Bland sieht es anders. Auf ihrem Konto auf Twitter sagt sie, dass sie für ihre Haltung und ihr Verhalten zwei Stunden lang kritisiert wurde. Sie erklärt, dass ihr aufdringliche Fragen über das Verhältnis ihrer Eltern gestellt wurden. Sie behauptet, dass sie als eine "Under-Achieverin" bezeichnet wurde - obwohl sie einen erstklassigen Abschluss hat und erst 22 Jahre alt ist. Als sie den Raum betrat, wäre Dean gerade dabei, ihre Spotify-Playlists zu studieren und kommentierte anschließend ihren Musikgeschmack.

Stefan Stern

Das ist nicht normal. So sollten Sie kein Vorstellungsgespräch führen, geschweige denn mit einer jungen Absolventin, die gerade erst ins Berufsleben eintritt. Das Unternehmen sagt, dass dies "ein robustes, mehrstufiges Vorstellungsgespräch war, bei dem herausfordernde, arbeitsbasierte Szenarien simuliert wurden, um den besten Kandidaten für die Stelle zu ermitteln. Die entsprechende Bewerberin hat sich während des Interviews ausgezeichnet und positiv auf das Feedback reagiert."

Bland sagt, dass sie während dieses „mehrstufigen Gesprächs“ fast in Tränen ausbrach. Als sie an der Bushaltestelle ankam, weinte sie tatsächlich. Als ihr später der Job angeboten wurde, nahm sie ihn zunächst an, aber nach reiflicher Überlegung lehnte sie ihn mit Nachdruck ab, teilte ihre Antwort auf Twitter und löste den Mediensturm aus, der bis heute anhält.

Schwerwiegende Fehler im System

Bewerbungsgespräche sind im besten Fall eine Art Lotterie. Die Führungskräfte setzen nach wie vor großes Vertrauen in sie. Aber die Beweise deuten darauf hin, dass sie ein recht fehlerhaftes Mittel sind, um herauszufinden, wie ein potenzieller Mitarbeiter in Zukunft arbeiten könnte.

Personalbeschaffer sind von Natur aus anfällig für Vorurteile und Verzerrungen; oft werden sie von Bewerbern angezogen, die sie an ihr jüngeres Selbst erinnern. Unstrukturierte Vorstellungsgespräche bieten die Gelegenheit, nützliche Informationen preiszugeben. Leider bieten sie jedoch keine Garantie dafür. In strukturierten Gesprächen können extrovertierte Menschen eine gute Leistung erbringen und dennoch nach Ernennung den Stellenanforderungen nicht gerecht werden. Introvertierte verkaufen sich dagegen unter Umständen schlecht und halten ihre wahren Fähigkeiten und Potenziale verborgen.

Dean versuchte anscheinend, eine herausfordernde, anspruchsvolle Arbeitsumgebung zu simulieren. Aber diese Simulation war äußerst künstlich – gelinde gesagt. Für die meisten Jobs wird diese Methode nichts wirklich etwas Nützliches offenbaren. In der Tat hat sie ihn die Dienste einer hervorragenden Bewerberin gekostet, die meinte, dort arbeiten zu wollen.

Zu oft habe ich Unternehmen gesehen, die behaupten, nach "Resilienz" zu suchen und diese als Deckmantel nutzen, um die Mitarbeiter zu misshandeln. Die Zähen und Unerschrockenen können überleben. Aber viele talentierte Menschen werden nicht bleiben.

Rekrutierer sollten versuchen, Potenzial und Anpassungsfähigkeit zu erkennen, da ein Bewerber im Regelfall kein Endprodukt ist. Neue Mitarbeiter werden viele Wochen brauchen, um sich an ein neues Arbeitsumfeld anzupassen, bevor sie Höchstleistungen erbringen können.

Ich war beeindruckt von einer Bemerkung des Schauspielers und Regisseurs Samuel West in einem kürzlich erschienenen Artikel für die Zeitung The Stage. Er sagte, dass er beim Casting einer Show keine "sofortige Perfektion" will. Was er sucht, sind "Talent, Freundlichkeit und Eignung für die Rolle, in dieser Reihenfolge... Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als jemanden zu casten, weil er beim Vorsprechen perfekt war, und dann herauszufinden, dass er gar nicht änderungsfähig ist".

Es herrscht immer noch ein Machtungleichgewicht

Jede Begegnung mit einem Chef, ob im Vorstellungsgespräch oder im Alltag, kann schieflaufen. Dies liegt am unvermeidlichen Machtgefälle zwischen den beiden Parteien. Die Hierarchie ist nicht tot. Aber Jobs können hart genug sein, ohne Mobbing und Einschüchterung. Die von Olivia Bland beschriebene Erfahrung – in der das Unternehmen keine ungerechte Behandlung sieht - ist an Arbeitsplätzen viel zu verbreitet.

Vor allem die Millennials sind hart davon betroffen - zusätzlich zu ihren Kämpfen, Studienkredite zurückzuzahlen und mit hohen Mietzahlungen Schritt zu halten. Dieser Druck führt zu dem, was einige als "Millenial Burnout" bezeichnet haben.

Arbeitsplätze sollen sicher und produktiv sein - manchmal auch zufriedenstellend. Aber gelegentlich hat man das Gefühl, dass der Fortschritt zum Stillstand gekommen ist. Es ist nun 70 Jahre her, dass Arthur Miller sein Stück Death of a Salesman über Willy Loman schrieb, den langjährigen, aber gescheiterten Handelsreisenden. In einer brutalen Szene entlässt der junge Firmenchef - der Sohn des Gründers, für den auch Loman gearbeitet hatte - den alten Mann mit der schlagfertigen Beobachtung, "Business ist Business". Loman protestiert erschöpft: "Du kannst nicht die Orange essen und die Schale wegwerfen - ein Mensch ist kein Stück Obst!"

Rekrutierer müssen verstehen, dass es beim Vorstellungsgespräch um einen wechselseitigen Prozess geht. Und immer mehr Arbeitnehmer, denen die grundlegende Würde verweigert wird, wehren sich sowohl offline als auch online, wie der Fall von Web Applications UK veranschaulicht hat.“

*Autoren-Info: Stefan Stern schreibt und kommentiert seit über zwei Jahrzehnten über Wirtschaft, Politik und Management für den Guardian, Independent, Daily Telegraph und FT. Zugleich arbeitet er als Redakteur beim Management Today Magazine und ist seit 2010 Gastprofessor für Management Practice an der Londoner Cass Business School, City University of London. Er ist der Autor von Demeaning job interviews and bullying bosses are still far too common und Theresa May’s handling of Brexit is a classic case of bad leadership, die beide in The Conversation veröffentlicht wurden. Er ist auch Mitverfasser von Myths of Management.

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