Dr. Alexandra Hildebrandt

Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

„Die Vergangenheit biegt um die Ecke“: Zur Aktualität von Erich Kästner

Pixabay

Im Zerrspiegel der Geschichte

„Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!“ Auch der „seelische Stundenplan“ war gefährdet: „Dem Charakter fehlte das Geländer.“ Unsere Gegenwart könnte kaum besser beschrieben werden. Kaum zu glauben, dass sie zwischen Oktober 1930 und Juli 1931 entstanden. Am 15. Oktober 1931 wurde das Buch „Fabian“ ausgeliefert. Erich Kästner (1899 - 1974), dem sein literarischer Durchbruch 1929 mit dem Kinderbuch „Emil und die Detektive“ gelang, beschreibt darin die Zustände in der Weimarer Republik in Berlin: Arbeitslosigkeit, Machthunger, Geldgier und das zügellose Treiben des Berliner Nachtlebens: Der Germanist Dr. Jakob Fabian ist 32 Jahre alt, war Journalist und arbeitet als „Reklametexter“ für eine Zigarettenfirma. Er sucht sich den Konflikten seiner Zeit zu entziehen, geht ziellos umher und beobachtet nur: „Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen“. Er besucht Etablissements für sexuell „Aufgeschlossene“, betrinkt sich und erhält Einblicke in die Manipulation bei Medien. Er erlebt, wie ein Redakteur die Rede des Reichskanzlers redigiert und dadurch der Umbruch auf der Titelseite der Zeitung nicht mehr stimmt. Schließlich wird eine Kurznachricht über tödliche Straßenkämpfe in Kalkutta erfunden: „Merken Sie sich Folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr.“

Sein Freund Labude ist Literaturwissenschaftler und möchte sich mit einer Arbeit über Lessing habilitieren. Während Labude politisch zu handeln versucht („Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.“), bleibt Fabian ein passiver Beobachter. Beim Besuch im Atelier einer Bildhauerin trifft Fabian die Juristin Cornelia Battenberg. Die beiden verlieben sich und erleben einige unbeschwerte tage miteinander. Als Fabian arbeitslos wird, lässt sich Cornelia mit einem Filmmagnaten ein und wird dessen Geliebte. Labude erhält die Nachricht, dass seine Habilitationsschrift abgelehnt worden sei, und nimmt sich das Leben. Fabian geht in seine Heimatstadt Dresden zu seinen Eltern zurück. Einen Job bei einer rechten Zeitung lehnt er ab. Er bleibt in der beobachtenden Rolle des Moralisten gefangen: „Wer für die anderen da sein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und Einer muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber.“ Seine einzige Aktion misslingt: Bei einem Spaziergang springt Fabian in den Fluss, um einen Jungen zu retten. Aber: „Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.“

Kästner schlug zunächst „Saustall“ und „Jugend im Vacuum“ unter anderem als Titel vor, doch dies deckte sich nicht mit den Vorstellungen des Lektors Curt Weller bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, der den Titel „Fabian - Die Geschichte eines Moralisten“ wählte. Zudem fielen etliche Passagen der Zensur zum Opfer. Die Originalfassung von „Fabian“ - „Der Gang vor die Hunde“, den Kästner bevorzugt hatte, erschien 2013 beim Atrium-Verlag in Zürich. Herausgeber war der Kästner-Experte Sven Hanuschek, der erstmalig die Urfassung des Romans veröffentlichte, wie sie in Kästners Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt (nebst Nachworten). Regisseur Wolf Gremm (1942 - 2015) verfilmte im Jahr 1979 Kästners „Fabian“ mit Hans Peter Hallwachs in der Titelrolle. Ende Juli bis Mitte September 2019 drehte Regisseur Dominik Graf in Görlitz, Berlin und Brandenburg als ZDF-Koproduktion Erich Kästners "Fabian oder der Gang vor die Hunde". Tom Schilling spielt den Fabian, Albrecht Schuch den Labude und Saskia Rosendahl Cornelia. Kinostart war August 2021. Die Buch-Ausgabe mit Tom Schilling auf dem Cover ist die unzensierte Romanvorlage zum Film „Fabian - Der Gang vor die Hunde“.

Das Buch:

  • Erich Kästner: „Der Gang vor die Hunde“. Herausgegeben von Sven Hanuschek. Atrium Verlag. 3. Auflage Zürich 2021.

Weiterführende Informationen:

Wer schreibt hier?

Dr. Alexandra Hildebrandt
Dr. Alexandra Hildebrandt

Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
Mehr anzeigen