Wie kann Inklusion gelingen?

Ob im Beruf oder Alltag – die Inklusion läuft hierzulande nur schleppend voran. Unternehmer und Behinderte zeigen auf, woran es oft hapert und wie wir die Situation verbessern können.

Raul Krauthausen
  • Behinderte Menschen werden noch immer zu sehr auf ihre „Defizite“ reduziert
  • Dabei sind es die gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen ausschließen
  • Wir sollten das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung fördern

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Immer wieder erlebe ich es, dass Menschen in ihrem Alltag – auf der Straße, im Supermarkt, im Café – innehalten, weil ihr Blick auf mich fällt. Plötzlich sind sie aus dem Konzept gebracht: Sie schauen neugierig, irritiert oder auch zuweilen offen voyeuristisch.

Ich sehe die Fragezeichen in ihrem Gesicht: „Was hat er?“, „Ob er vielleicht Schmerzen hat?“, „Ist das eine Krankheit?“. Nicht selten werden diese Gedanken sogar direkt laut ausgesprochen. Eindeutiger kann man einen Menschen wohl kaum auf seine Diagnose, seine scheinbare Krankheit, seine Behinderung reduzieren.

Es gibt zwei populäre Ansätze zum Thema Behinderung: das medizinische und das soziale Modell. Beide unterscheiden sich komplett voneinander.

Die Behinderung wird zu oft problematisiert

Das medizinische Modell ist der klassische Ansatz, der seit jeher den Blick auf behinderte Menschen prägte. Hier wird Behinderung als Problem empfunden, als ein Zustand, der behandelt und im Idealfall beseitigt werden kann. Besonders bedenklich finde ich an diesem Modell, dass Behinderung problematisiert wird. Die Lösung des Problems wird vom behinderten Menschen und seinem familiären Umfeld erwartet.

Dass durch die nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft behindernde Faktoren geschaffen und beibehalten werden (unter anderem mangelnde Barrierefreiheit), die die Behinderung erst zu einem Problem machen, wird dabei nicht mit einbezogen.

Um es klar zu sagen: Nicht laufen zu können macht nicht automatisch unglücklich, wohl aber die nicht vorhandene Barrierefreiheit – Treppen, nicht funktionierende Aufzüge, keine Gebärdensprachdolmetschung, fehlende Leitsysteme für Blinde und so weiter – und dadurch vom gesellschaftlichen und beruflichen Leben ausgeschlossen zu werden. Dies zu verändern liegt weder in den Möglichkeiten noch in der Verantwortung des einzelnen behinderten Menschen, sondern ist eine Aufgabe, die gesamtgesellschaftlich angegangen und gelöst werden muss – zum Nutzen aller.

Die Bedingungen den Menschen anpassen, nicht umgekehrt

Das soziale Modell sieht als Problem nicht die behinderte Person selber, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die verbessert werden müssen. Ganz simpel zusammengefasst: Während beim medizinischen Modell der Mensch und seine Behinderung das Problem sind, wenn er oder sie beispielsweise eine Veranstaltung nicht besuchen kann, weil der Zugang nur über eine Treppe möglich ist, verortet das soziale Modell das Problem hier in der fehlenden Rampe, also der nicht barrierefreien Umgebung, und wendet sich der Problemlösung zu.

Durch das im Jahr 2008 in Kraft getretene Übereinkommen der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK) sollte die Sicht des sozialen Modells von Behinderung in der Gesellschaft übernommen werden. Neun Jahre später muss man leider sagen, dass nach wie vor die defizitorientierte Sicht auf Menschen mit Behinderung in Gesellschaft, Medizin und Politik dominiert.

Gesellschaftlich ist die Durchsetzung des sozialen Modells besonders aus einem Grund erschwert: Menschen mit und ohne Behinderung haben im Alltag kaum Berührungspunkte. Behinderte Menschen sind auf dem ersten Arbeitsmarkt selten anzutreffen, die Inklusion in der Schule findet viel zu selten statt, so bleiben behinderte Schüler*innen an Förderschulen unter sich, der Wohnungsmarkt ist kaum barrierefrei, und Menschen mit Behinderung wohnen oft in Wohngruppen oder Heimen, die ihnen zwar Barrierefreiheit ermöglichen – aber kein Zusammenleben mit nichtbehinderten Menschen.

Prothesen sind kein Allheilmittel für ein glückliches Leben

Es gibt Menschen mit Behinderung, die viel Energie darauf verwenden, sich den Normen der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Eine Normalität, an der sich die Mehrheit der Gesellschaft orientiert, selbst wenn sie für einen behinderten Menschen aufgrund seiner Beeinträchtigung unerreichbar ist.

Ein Beispiel: Wenn ein Mensch ohne Arme auf die Welt kommt, ist die übliche Reaktion, dieses „Defizit“ durch Prothesen ausgleichen zu wollen (offensichtlich das medizinische Modell). Aber kann dieser Mensch nicht auch ohne Arme als vollständig empfunden werden? Kann es nicht zu seiner Individualität gehören dürfen, seinen eigenen Weg zu entwickeln und zu finden? Wir sollten aufhören, den Menschen der Gesellschaft und selbst gestalteten Umwelt anzupassen. Stattdessen sollten wir gemeinsam an einer Gesellschaft arbeiten, die Vielfalt und Inklusion ermöglicht, in der jeder Mensch sich in seiner Individualität verstanden und aufgehoben fühlt, in der niemand um soziale Teilhabe kämpfen muss. Und wir sollten unsere Umgebung so gestalten, dass Barrierefreiheit zur Norm wird.

Dieser Text entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit Suse Bauer.

Veröffentlicht:

Raul Krauthausen
© Esra Rotthoff
Raul Krauthausen

Aktivist und Gründer, Sozialhelden e.V.

für Inklusion, Barrierefreiheit

Raul Krauthausen arbeitet seit über 10 Jahren in der Internet- und Medienwelt. Seit 2011 konzentriert er sich voll auf die Arbeit bei dem von ihm gegründeten Verein Sozialhelden. Neben klassischem Projektmanagement vertritt er die Sozialhelden nach Außen. Auf Grund seiner Glasknochen ist er auf den Rollstuhl angewiesen. 2013 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 2014 veröffentlichte er seine Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“.

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