Jahresrückblick 2018: Was hat unsere Gesellschaft bewegt?

Die #MeToo-Debatte geht in die nächste Runde, Unternehmer setzen sich für geflüchteten Mitarbeiter ein und der Populismus nimmt an Stärke zu - gesellschaftlich stand 2018 im Zeichen des Diskurses.

Es soll sich etwas ändern? Unternehmen sind in der Pflicht

Anita Eckhardt

Referentin der Geschäftsführung, Bundesverband, BFF

Anita Eckhardt
  • Das Miteinander in familiären Teams erleichtert es, Grenzen zu überschreiten
  • Jeder Fall ist individuell, dennoch gibt es grundsätzliche Hinweise
  • Unternehmen müssen aufholen – Prävention ist keine Option, sondern Gesetz

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Ein Team, mit dem man auch private Themen teilen kann, regelmäßig in einer WhatsApp-Gruppe schreibt und mit dem man nach der Arbeit gemeinsam feiern geht – das klingt nach einer vertrauensvollen Stimmung. Ein familiäres Umfeld. Alles ist witzig und nett. Was will man mehr? Doch verschwimmen in dieser Wohlfühlatmosphäre auch leicht die Grenzen. Eine unangebrachte Bemerkung wird dann schnell mal als Witz ausgelegt. Ein Zu-nahe-Kommen sei nur ein Flirtversuch gewesen. Und eine Einladung zum Filmabend war natürlich völlig unverfänglich gemeint. Je näher und offener man miteinander umgeht, desto sensibler sollten jedoch auch alle Beteiligten für die Grenzen der anderen sein.

„Ist harmloses Flirten nicht mehr erlaubt?!“

In den allermeisten Fällen ist den Personen, die übergriffig werden, ganz genau bewusst, was sie tun. Das vertraute Miteinander macht es nur noch leichter, die Intention zu vertuschen. Spricht man die Personen darauf an, war es natürlich nicht so gemeint. Es sei doch nur ein Kompliment gewesen. Man hätte das komplett falsch verstanden. Und harmloses Flirten sei ja wohl noch erlaubt – dass zu einem Flirt zwei Personen gehören, die Lust darauf haben, wird dabei gern übersehen. Leugnen ist so einfach.

Das hat auch der Gesetzgeber erkannt. Denn die Intention tut nichts zur Sache. Im AGG, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, ist nachzulesen, dass es am Ende darum geht, was etwas bei einer Person bewirkt. Jemand, der übergriffig handelt, kann sich also so viel herausreden, wie er möchte. Bei der Beurteilung seines Verhaltens kommt es darauf an, wie sich die andere Person gefühlt hat. Es ist ganz einfach: Sexuelle Belästigung liegt dann vor, wenn sich jemand belästigt fühlt.

Auch Betroffene können handeln …

Wie Lena Barsnick in dem Gastartikel geschildert hat, stoßen besonders Werkstudierende, Trainees und Personen im Praktikum schnell an Grenzen. Sie stehen ganz unten in der Hierarchie. Aber auch sie können handeln. Jeder Fall ist individuell. Trotzdem gibt es einige grundsätzliche Hinweise.

Nehmen Sie Ihre Gefühle ernst: Wenn Sie sich belästigt fühlen, wurden Sie es auch. Wenn es Ihnen möglich ist, sollten Sie dem Gegenüber verdeutlichen, dass Ihnen etwas zu weit geht. Setzen Sie klare Grenzen. Sagen Sie „Stopp“, nehmen Sie einer Grenzüberschreitung die Heimlichkeit. Das kann in der Situation passieren oder auch danach, in einem nächsten Gespräch. Und scheuen Sie sich nicht davor, dass es andere mitbekommen oder Sie einem Kollegen oder einer Kollegin davon erzählen. Öffentlichkeit ist Macht. Peinlich sein sollte das Vorgefallene nicht Ihnen, sondern der anderen Person.

Sich nicht klein machen: In den meisten Fällen wird man als betroffene Person überrumpelt. Man zweifelt an seiner eigenen Wahrnehmung, ist unsicher und schämt sich. Viele fühlen sich wie gelähmt. Wenn Sie es in dieser Situation nicht schaffen, der Person Grenzen aufzuzeigen, machen Sie sich keine Vorwürfe. Nicht Sie sind schuld oder haben durch Ihr Nichtreagieren etwas provoziert. Schuld trägt allein die übergriffige Person.

Nicht allein bleiben: Wichtig ist, dass Sie mit jemandem sprechen. Vertrauen Sie sich jemandem an. Das kann ein Kollege oder eine Kollegin sein, dem beziehungsweise der Sie vertrauen, eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter, der oder die Gleichstellungsbeauftragte des Unternehmens, eine befreundete Person oder eine externe Beratungsstelle. Wichtig ist jedoch, dass Ihnen bewusst ist, dass diese Personen im unterschiedlichen Rahmen Vertraulichkeit bieten können.

Bevor Sie etwas unternehmen, sollten Sie sich sammeln, sich fragen, was Sie wollen und brauchen, und dann entscheiden, wen Sie mit welchem Anliegen ansprechen. Wollen Sie öffentlich ein Exempel statuieren und sind bereit, mehrfach über die Situation zu sprechen, können Sie offiziell Beschwerde einlegen. Sind Sie sich noch unsicher, welche Folgen das für Sie und Ihre Karriere haben könnte, macht es Sinn, sich erst einmal vertraulich an eine Beratungsstelle oder die Gleichstellungsbeauftragte des Unternehmens zu wenden. Sicher ist: Sie haben einen Anspruch darauf, am Arbeitsort vor sexueller Belästigung geschützt zu werden.

Sie brauchen die Unterstützung des Unternehmens

Auch eine Beraterin kann beispielsweise dem Unternehmen den Fall melden, wenn eine betroffene Person das wünscht. Soll sich die Situation im Unternehmen ändern, muss die Firma informiert und müssen Maßnahmen ergriffen werden. Ohne institutionelle Unterstützung geht es nicht. Das Unternehmen muss mit einbezogen werden. Auf welcher Ebene genau das passiert und wie öffentlich oder vertraulich dabei vorgegangen werden kann, hängt sicher vom Vorfall und den involvierten Personen ab.

Was vielen Unternehmen und Personen nicht klar ist: Sexuelle Belästigung ist verboten. Wer belästigt, kann unter Umständen arbeits- und oder auch strafrechtlich belangt werden. Häufig herrscht noch die Einstellung vor, Unternehmen hätten eine Wahl und würden sich freiwillig mit dem Thema auseinandersetzen. Dem ist jedoch nicht so. Im AGG ist klar festgelegt, dass Unternehmen dazu verpflichtet sind, Mitarbeitende zu schützen – und dafür auch vorbeugende Maßnahmen ergreifen müssen. Doch oft ist in Unternehmen noch nicht einmal bekannt, was zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz im AGG steht. Zudem scheuen sie den Kontakt mit der Thematik. Werden sie mit sexueller Belästigung in Verbindung gebracht, empfinden sie das als Makel. Dabei kommen Vorfälle – leider – in den meisten Unternehmen vor. Das zeigt die schiere Zahl der Betroffenen. Die Frage ist, wie man mit den Fällen umgeht. Scham und Vermeidungsverhalten ist definitiv die falsche Reaktion. Im Gegenteil: Es spricht für das Unternehmen, wenn es sich mit dem Thema auseinandersetzt.

Zu diesem Thema zu schweigen sollte sich heute niemand mehr leisten können

Die Abwehrhaltung einzelner Unternehmen ist jedoch nur ein Grund, warum es immer noch vom Glück, Zufall oder Engagement Einzelner abhängt, ob eine betroffene Person an ihrem Arbeitsort vor sexueller Belästigung geschützt ist und adäquate Unterstützung erhält. Wirklich etwas ändern wird sich nur, wenn breite und starke Bündnisse sich für das Thema einsetzen, Haltung zeigen und Unternehmen auffordern, ihre Pflichten wahrzunehmen und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aktiv zu ächten. Vertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind hier ebenso gefragt wie die Verbände der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie die Politik. Zu diesem Thema zu schweigen sollte sich heute keiner mehr leisten können.

Und auch Mitarbeitende können etwas tun: Gemeinsam müssen sie eine Kultur der Grenzachtung im Unternehmen etablieren wie pflegen – und so betroffenen Personen Sicherheit geben. Hören Sie zu und seien Sie ansprechbar, mischen Sie sich ein. Fühlt ein Erlebnis sich für die Person wie eine Grenzüberschreitung an, dann ist sie das auch. Gleichzeitig sollten Betroffene im besten Falle selbst entscheiden, wann welcher Schritt erfolgt. Schnellschüsse von Dritten schaden oft eher. Überlegtes und informiertes Handeln ist wichtig, damit am Ende steht, dass die Belästigung aufhört und es der betroffenen Person besser geht.


Sind auch Sie am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden? Die eigenen Handlungsmöglichkeiten finden Sie in diesem Flyer oder wenden Sie sich an Beratungsstellen in ganz Deutschland.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser: Hat auch Sie dieses Jahr die Me-too-Debatte bewegt? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!

Veröffentlicht:

Anita Eckhardt
© Jörg Farys
Anita Eckhardt

Referentin der Geschäftsführung, Bundesverband, BFF

Anita Eckhardt ist seit mehr als zehn Jahren für den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) tätig. Eine ihrer Spezialisierungen ist das Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Sie ist Mitverfasserin des Handbuchs „Sexuelle Diskriminierung, Belästigung und Gewalt in der Arbeits- und Ausbildungswelt: Recht und Realität“.

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