Was für ein Frauenbild leben wir in Deutschland vor?

Der Mord an einer Studentin in Freiburg und zwei Vergewaltigungen in Bochum schüren die Debatte um das Frauenbild von Geflüchteten. Dabei pflegen auch hierzulande viele ein veraltetes Verständnis.

Wir müssen endlich über das Frauenbild in Deutschland reden

Jennifer Lachman
  • Die Integration gelingt nur, wenn wir auch gemeinsame Standards leben
  • Es ist falsch, die Debatte aus „Rücksicht“ auf Fremdenfeinde abzuwürgen
  • Zur Diskussion steht auch: Wie sehen deutsche Männer Gleichberechtigung?

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Wirklich alles an den aktuellen Ereignissen ist schrecklich. Eine 19-jährige Medizinstudentin ist in Freiburg missbraucht und ermordet worden. In Bochum wurden zwei Frauen vergewaltigt. Zwei mutmaßliche Täter, eine Gemeinsamkeit: Sie sind Geflüchtete und erst seit Kurzem in Deutschland. Seither wird diskutiert: „Kann und darf die Tat mit der Herkunft in Verbindung gebracht werden?“, titelte etwa die „Bild“-Zeitung in dieser Woche über die „große Debatte um das Frauenbild von Flüchtlingen“.

Es steht außer Frage, dass es sich in beiden Fällen um grauenhafte Verbrechen handelt, die aufgeklärt werden müssen. Auch muss zwingend analysiert werden, ob und wenn ja, es hier einen kulturellen Zusammenhang gibt, wenn die Integration gelingen soll. Interessant ist an dieser Debatte aber auch, dass ausgerechnet diejenigen aus dem Grauen politisch Kapital schlagen wollen, deren Frauenbild selbst nicht das fortschrittlichste ist. „Die aktuelle Familienpolitik in Deutschland wird bestimmt durch das politische Leitbild der voll erwerbstätigen Frau, sodass die Anzahl außerfamiliär betreuter Kleinkinder stetig ansteigt“, heißt es etwa im Parteiprogramm der AfD. „Die sichere Bindung an eine verlässliche Bezugsperson ist aber die Voraussetzung für eine gesunde psychische Entwicklung kleiner Kinder und bildet die Grundlage für spätere Bindungs- und Beziehungsfähigkeit.“

Für ein Viertel der EU-Bürger kann eine Vergewaltigung gerechtfertigt sein

Ja, wir müssen unbedingt über das Frauenbild reden, das mehr als eine Million Zugewanderte beispielsweise aus Nordafrika, Syrien oder dem Irak haben. Wir müssen aber auch darüber reden, wie Millionen in Deutschland und Europa über die Stellung der Frau in unserer westlichen Welt wirklich denken – in der Partnerschaft, im Job, in der Gesellschaft. Die EU-Kommission kam in einer kürzlich veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass für mehr als ein Viertel aller EU-Bürger Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung gerechtfertigt sein kann. Die mehr als 27.000 Befragten gaben als Gründe an: Die betroffenen Frauen waren betrunken oder hatten Drogen genommen (12 Prozent), sind freiwillig zu jemandem nach Hause mitgegangen (11 Prozent), trugen freizügige, provozierende oder sexy Kleidung, sagten nicht deutlich nein oder wehrten sich körperlich nicht deutlich (beide 10 Prozent). Wie kann das im Jahr 2016 noch sein?

Es ist Zeit für eine ehrliche Analyse – über Status Quo und unsere Ziele in Bezug auf die Gleichberechtigung. Es wäre falsch, die Diskussion abzuwürgen, weil fremdenfeindliche Idioten daraus Pauschalurteile über Ausländer bilden wollen. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hat, weiß, dass man aus der Nationalität eines Menschen nichts über seinen Charakter oder seine Gewaltbereitschaft ableiten kann. Aber natürlich herrscht in anderen Kulturkreisen ein anderes Frauenbild. Ich engagiere mich seit dem Sommer 2015 hier in Hamburg in der Flüchtlingshilfe. Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden habe ich in der Messehalle am Wochenende gespendete Kleider sortiert, haben wir bei Willkommensfesten im Karolinenviertel Essen verteilt und mit den Kindern gespielt. Ich habe sehr viele sehr freundliche Zugewanderte erlebt, die die Gleichberechtigung schon leben. Ich habe Männer kennengelernt, die offen darüber sprachen, dass unabhängige, selbstbewusste Frauen sie irritieren, die aber offen um Ratschläge baten, wie sie den „richtigen“ Umgang mit uns lernen können. Ich habe aber auch erlebt, dass Helferinnen wie ich respektlos behandelt und offene Missachtung erfahren haben. Aufgrund unseres Geschlechts. Über all das müssen wir reden, wenn wir künftig zusammenleben wollen.

Die Frage ist: Welche Werte leben und erwarten wir?

Ja, es stimmt, was in diesen Tagen so oft zu lesen ist: Es zeugt von einem fragwürdigen Rollenbild, dass die „Bild“-Zeitung noch immer Fotos von nackten Frauen druckt. Dass ausgerechnet sie jetzt diese Diskussion befeuert, mag daher heuchlerisch anmuten, sollte die Bedeutung der Debatte aber nicht mindern. Denn all diese Facetten zeigen, dass wir reden müssen. Denn nur dann wissen wir, welche Ziele wir verfolgen – auch, damit wir diese gegenüber Zugewanderten klar kommunizieren und als Standard vorleben können.

Eine derartige Debatte würde uns auch in unserem eigenen Alltag helfen. Laut der Studie der EU-Kommission haben 22 Prozent aller Frauen schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner erlebt: jede Fünfte! Für die allermeisten Durchschnittsbürgerinnen ist so etwas – Gott sei Dank – kein Thema. Aber sehr viele Frauen, die ich kenne, haben in ihrem Leben andere Formen der Diskriminierung erlebt: sei es in Form von Übergriffen oder auch „nur“ unangemessenen Sprüchen. Die wenigsten reden offen darüber – aus Sorge, als übersensibel und radikal feministisch dargestellt zu werden. „Ach komm, jetzt stell Dich nicht so an!“, ist so eine Pauschalantwort, mit der solche Erzählungen dann abrupt beendet werden.

Aber, die mangelnde Gleichberechtigung beginnt im Kleinen: Müssen Frauen wirklich akzeptieren, wenn ihre Kollegen im Büro über die guten alten Zeiten sprechen, in denen auf Branchentreffen das Essen auf nackten Damen serviert wurde? Ist es akzeptabel, einer Frau im Geschäftskontext vor Kollegen eindeutige Komplimente über ihre Figur und ihr gutes Aussehen zu machen? Der Grat, das ist das Problem, ist extrem schmal. Niemand möchte in einer politisch überkorrekten Welt leben, in der jeder Witz, jeder Spruch auf die Goldwaage gelegt werden. Nicht darüber zu reden, ist aber genauso falsch.

Die Debatte ist anstrengend, zäh, aber immens wichtig

Nachdem der FDP-Politiker Rainer Brüderle 2013 einer Journalistin bescheinigte, sie könne ein Dirndl ausfüllen, gab es einen #Aufschrei in Deutschland. Man konnte den Vorfall schlimm finden oder aufgebauscht, die Aufregung gerechtfertigt oder übertrieben, aber: Es wurde zumindest kontrovers diskutiert, wo die Grenzen verlaufen, und viele Männer zeigten sich aufrichtig erstaunt, dass ihr Frauenbild offenbar nicht der Standard ist und dass es eine Lebenswirklichkeit gibt, die sie nicht kennen (können). Seither ist die Debatte verpufft. Leider.

Ja, sie nervt. Ja, sie ist anstrengend. Ja, wir sind in den vergangenen Jahren schon weit gekommen. Aber es ist allerhöchste Zeit, dass wir die Debatte um das Frauenbild jetzt anfachen und fortsetzen. Umso mehr, als die schrecklichen Ereignisse in Freiburg und Bochum uns die schlimmsten Seiten eines veralteten Frauenbilds aufzeigen. Es darf nicht sein, dass Frauen ihr bisheriges Verhalten ändern: zu Hause bleiben anstatt auszugehen, sich zurücknehmen, um nicht zu provozieren. Vielmehr müssen wir unseren Wirkungskreis vergrößern und alle vorleben, im Kleinen, wie im Großen, dass Deutschland ein Land ist, in dem Frauen wirklich exakt die gleichen Rechte haben wie Männer.

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Jennifer Lachman
© XING
Jennifer Lachman

Chefredakteurin, XING Klartext

Jennifer Lachman (Jg. 1981) ist Chefredakteurin der neuen XING-Redaktion Klartext. Die Wirtschaftsjournalistin arbeitete zuvor unter anderem als Teamleiterin und Redakteurin bei der „Financial Times Deutschland“ (Gruner + Jahr Wirtschaftsmedien), „NDR Info“ und als Wall-Street-Korrespondentin aus New York City. Die gebürtige Britin ist Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft und Diplom-Volkswirtin.

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