Power of Diversity: Wie verschieden wollen wir sein?

78 Prozent der in einer XING Studie befragten Personaler glauben, dass mehr Vielfalt eine Firma erfolgreicher macht. Aber wo stehen wir in Deutschland heute wirklich bei dem Thema?

Wir müssen Firmen zwingen, behinderte Menschen einzustellen

Raul Krauthausen
  • Die Diskussion um Diversity wird seit Jahren viel zu einseitig geführt
  • Statt behinderte Menschen zu integrieren, benutzt man scheinheilige Ausreden
  • Wir brauchen eine verbindliche Quote, um eine Teilhabe aller zu garantieren

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Beim Thema Diversity geht es oft nur um eins: um Frauen! Sicherlich ist es wichtig, über die Aufstiegschancen von Frauen zu diskutieren, aber wo bleibt der Rest der Gesellschaft? Warum wird so selten über Menschen mit Behinderungen gesprochen, über Leute mit anderen sexuellen Orientierungen? Über Menschen mit Migrationshintergrund oder diversen ethnischen Wurzeln? Oder sogar über homosexuelle, behinderte Migranten? Diese Diskussion findet einfach nicht statt. Und trotzdem stellen sich genügend Menschen auf die Bühne und meinen, über Vielfalt zu sprechen, obwohl sie gerade mal einen einzigen Aspekt thematisieren: Frauen in Führungspositionen. Sollte nicht mindestens das eine Selbstverständlichkeit sein?

Das Schlimme daran, und das beobachte ich schon länger: Je mehr Unternehmensberater in dieser Diskussion mitreden, desto mehr wird Diversity allein auf das Geschlecht reduziert. Aus Beratersicht sollen und müssen sich Mitarbeiter schließlich betriebswirtschaftlich rechnen – und das tun Frauen, solange sie „genauso gut wie Männer“ sind. Und genau das ist der springende Punkt: Es geht doch nicht darum, dass irgendwer „genauso gut ist wie Männer“. Es geht nicht um Zahlen oder Wirtschaftlichkeit. Es geht um Teilhabe am Leben!

Wir brauchen eine Quote für behinderte Menschen

Das Thema Diversity wird aus meiner Sicht immer nur dann erörtert, wenn die Diskussion darum der Wirtschaft zuträglich ist, sprich: wenn Menschen wirtschaftlich verwertbar sind. Stichwort Fachkräftemangel, Kreativität, Innovation. Sind sie es nicht, fallen sie ganz schnell hinten runter und damit auch aus dem Fokus vieler Unternehmen. Damit das nicht mehr passiert, und das ähnelt der Debatte um Frauen in Führungspositionen, brauchen wir die Quote. Denn erst wenn Unternehmen dazu verpflichtet sind, sagen wir mal fünf Prozent aller Stellen mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen, werden sie anfangen, sich Gedanken um uns zu machen.

Die Ausrede „Wir würden ja Behinderte einstellen, aber es bewerben sich keine“ wäre damit hinfällig. Denn es gibt genügend Menschen mit Behinderungen, die sich bewerben – allerdings mit den absurdesten Begründungen abgelehnt werden. Da heißt es dann: „Wir würden Sie ja einstellen, aber wir haben keine rollstuhlgerechte Toilette.“ Und damit endet die Diskussion. Statt dass sich Firmen Gedanken machen, wie sie ihre Toiletten umbauen können (was der Staat im Übrigen bezahlen würde), flüchten sie sich in scheinheilige Ausreden. Das Gleiche übrigens beim Thema Brandschutz: „Was sollen wir denn mit einem Rollstuhlfahrer machen, wenn’s brennt?“ Tja. Was machen Sie denn mit einem ohnmächtigen 100-Kilo-Kollegen, wenn’s brennt? Den müssen Sie ja auch irgendwie nach unten tragen. Sie sehen: alles Ausreden!

Die Mehrheitsgesellschaft will einfach keinen Aufwand

In der Sozialwissenschaft geht man übrigens inzwischen davon aus, dass Menschen mit Behinderungen bewusst unter dem vermeintlichen Aspekt des Schutzes und der Schonung aussortiert werden. Nach dem Motto: Wir können dem armen behinderten Menschen doch nicht zumuten, dass er sich überarbeitet. Da beschäftigen wir ihn lieber auf Förderschulen, in Werkstätten und Behindertenheimen. Doch in Wahrheit geht es nicht darum, uns Menschen mit Behinderung zu schonen, sondern allein um den Schutz der heterosexuellen, männlichen, weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich den Veränderungen nicht stellen möchte – weil es anstrengend ist, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Um die Quote kommen wir also nicht herum. Und um Strafzahlungen, und da rede ich bei Nichtbeachtung der Auflagen nicht von 300 Euro, sondern eher von 1000, auch nicht. Dann würden die Unternehmen aber ganz schnell gucken, wo sie die behinderten Menschen herkriegen, würden systematisch danach suchen und vielleicht sogar Mitarbeiter mit chronischen Erkrankungen motivieren, sich zu outen.

Behinderte Menschen sind oft loyaler als andere

Ob wir damit zu einem ehrlichen, authentischen Interesse für dieses Thema kommen? Ich weiß es nicht. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Entscheidung über die Teilhabe von Behinderten nicht in der Corporate-Social-Responsibility-Abteilung versauert, sondern durch messbare Metriken vorangetrieben wird. Und vor allem müssen wir die Personaler schulen. Firmenchefs wie Joe Kaeser oder Christian Sewing, die sind sicherlich nicht dagegen, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, und selbst wenn: Sie würden es nie zugeben. Die größten Berührungsängste mit behinderten Menschen haben also eher die Personaler und Personalerinnen. Weil die am Ende nämlich Bilanz ziehen und nach oben reporten müssen – und nach unten hin Angst haben vor dem bürokratischen Overload, der durch die Beschäftigung behinderter Menschen auf sie zurollen könnte. Dabei sind Behinderte ironischerweise, und das ist die Kehrseite der Medaille, mehr als dankbare Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Natürlich ist das ein schwieriges Verkaufsargument und ähnelt schon fast dem Stockholm-Syndrom, aber am Ende des Tages sind behinderte Mitarbeiter ihrer Arbeitgeberin oder ihrem Arbeitgeber oft mehr als alle anderen im Unternehmen verbunden. Weil sie ganz genau wissen, dass sie ansonsten wohl kaum einen anderen Job finden würden. Und sollten genau diese Loyalität und Dankbarkeit den Arbeitgebern nicht schon Anreiz genug sein?


15 Jahre XING

Vor 15 Jahren gab es weder soziale Medien noch Smartphones, agiles Arbeiten war hierzulande unbekannt. Unvorstellbar, was in den kommenden 15 Jahre alles Neues entstehen und wie sich unsere Arbeitswelt entwickeln wird! In welchen Berufen werden wir künftig überhaupt arbeiten – und wie? Wie verändert die künstliche Intelligenz den Recruiting-Prozess? Wird die Arbeitswelt von morgen gerechter sein – oder tiefer gespalten?

Zusammen mit dem Zukunftsforscher und Gründer des Trendbüros, Professor Peter Wippermann, hat XING 15 Trends untersucht, die Arbeitnehmer und Unternehmen betreffen und die Gesellschaft verändern werden. Unsere Prognosen basieren auf der wissenschaftlichen Expertise des Trendbüros, einer repräsentativen Umfrage unter den XING Mitgliedern und E-Recruiting-Kunden sowie aus unserer Erfahrung als Vorreiter beim Thema New Work.

Die 15 Trends lassen wir seit dem 5. November täglich auf XING diskutieren – hier auf XING Klartext, von unseren XING Insidern und im XING Talk. Alle Beiträge finden Sie gesammelt auf einer News-Seite.

  • In der Woche ab dem 5. November drehte sich alles darum, was sich für den einzelnen Arbeitnehmer ändert.
  • Ab dem 12. November diskutieren wir eine Woche lang die Folgen des Wandels für Unternehmen.
  • Eine Woche später, ab dem 19. November, thematisieren wir, wie sich unsere Gesellschaft verändern wird.

Bei Fragen, Feedback und Ideen erreichen Sie die Redaktion von XING News unter klartext@xing.com. Wir freuen uns auf spannende und hitzige Diskussionen!

Veröffentlicht:

Raul Krauthausen
© Esra Rotthoff
Raul Krauthausen

Aktivist und Gründer, Sozialhelden e.V.

für Inklusion, Barrierefreiheit

Raul Krauthausen arbeitet seit über 10 Jahren in der Internet- und Medienwelt. Seit 2011 konzentriert er sich voll auf die Arbeit bei dem von ihm gegründeten Verein Sozialhelden. Neben klassischem Projektmanagement vertritt er die Sozialhelden nach Außen. Auf Grund seiner Glasknochen ist er auf den Rollstuhl angewiesen. 2013 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 2014 veröffentlichte er seine Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“.

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