Thema des Tages

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Einordnung und Perspektiven

Richard David Precht: „Wir verwandeln uns von der Arbeits- zur Sinngesellschaft“ – Highlights der New Work Experience

Eröffnet wurde die New Work Experience 2022 mit einem Konzert zum Mitsingen.

Die größte Konferenz zur Zukunft der Arbeit verpasst? Die XING News Redaktion hat die wichtigsten Momente für Dich zusammengefasst.

Was vor der Pandemie noch eine Randdisziplin war, ist heute das neue Normal: Eine Unternehmenskultur, mit der man sich identifizieren kann. Sinnhaftigkeit, Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit auf der Arbeit rücken immer mehr in den Fokus der Menschen in Deutschlands Büros. 37% der Arbeitnehmer•innen gaben etwa laut einer XING Studie an, innerhalb des nächsten Jahres, den Job wechseln zu wollen. Das sind 12% mehr als 2020. Warum ist die Wechselbereitschaft so hoch – auch darum ging es auf der ersten New Work Experience, die nach Corona wieder in der Elbphilharmonie stattfinden konnte.

„New Work ist längst nicht mehr nur etwas für Besserverdienende“, sagte auf der Eröffnungsrede am Morgen Deutschlands wohl populärster zeitgenössischer Philosoph Richard David Precht vor rund 2000 Gästen. Precht unterteilte Arbeit in zwei Ausprägungen: Die Arbeit, die gerne gemacht wird, und jene, die erledigt werden muss. Dass aber auch LKW-Fahrer, Service- und Pflegekräfte nach der Pandemie nicht mehr ihre alten Jobs zurückwollten, sei der größte Aha-Moment für ihn gewesen: „Wir bewegen uns weg von einer Arbeitsgesellschaft hin zu einer Sinngesellschaft“, so Precht weiter.

Richard David Precht, Philosoph und Autor

Forderung nach einem bedingungslosem Grundeinkommen 

Routinearbeit, auch geistiger Art, werde künftig immer mehr von Maschinen erledigt. Precht kritisierte in diesem Zusammenhang die jüngste Forderungen vom Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, die Deutschen sollten wieder mehr, nämlich 42 Stunden pro Woche, arbeiten: „Das ist das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass der technologische Fortschritt steigt und auch die Arbeitsstunden steigen sollen“.

Schuld an derart veralteten Denkmuster sei, dass Deutschland in seinem veralteten Rentensystem fest stecke: „Das Umlagensystem basiert auf der Arbeitsgesellschaft, wir gleiten aber gerade in eine Sinngesellschaft“, so Precht weiter. Einmalmehr plädierte Precht in der Hambuger Elbphilharmonie vor rund 2.000 Gästen für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Besteuert werden sollten zudem künftig Maschinen und Transaktionen, nicht die Arbeit an sich: „Ein Steuersystem, das Arbeit besteuert, kann nicht Grundlage einer Sinngesellschaft sein“, so Precht.

Purpose ist individuell 

Auch die niederländische Anthropologin Jitske Kramer sieht Corona als eine Chance für die Gesellschaft, eine neue, bessere Arbeitswelt zu schaffen: „Am Anfang fühlte die Pandemie sich an wie ein Kulturschock, wie eine andere Welt.“ Eine Welt, in der plötzlich hybrid gearbeitet wird, in der Beziehungen zu Arbeitskolleg·innen und auch Wertvorstellungen sich verändern. „Wir müssen neue Verhaltensweisen lernen, um Kultur neu zu designen“, forderte Kramer, denn „Menschen prägen Kultur und Kultur prägt Menschen“. Aber diese Transformation geschehe nur dann, wenn jeder aktiv an sich arbeite.

Das Individuum stellte auch XING Insider und Psychologe Ingo Hamm in den Vordergrund seiner Ausführungen: Eine pauschale Purpose-Diskussion, bei der jedes Unternehmen zwanghaft versuche, eine höhere Mission für sich zu definieren, sei schadhaft: „Sinn ist etwas Individuelles“. Hamm zitierte in diesem Zusammenhang den Psychiater und Psychologen Victor Frankl: „Sinn kann nicht gegeben werden, er muss gefunden werden.“

Statt sich blumige Purpose-Parolen auszudenken, sollten Unternehmen ihre Mitarbeiter·innen unterstützen, die Sinnfrage für sich individuell zu beantworten. Kompetenz-Interviews, Probetage und Kulturmatching könnten etwa Bewerber•innen helfen, vor Eintritt in ein Unternehmen herauszufinden, ob das Unternehmen zu ihnen passe. Insgesamt zeige seine Forschung, so Hamm, dass nachweislich folgende Faktoren Menschen auf der Arbeit glücklich machten: Abwechslung, Autonomie, Feedback und Selbstwirksamkeit.

Ein Job, der den eigenen Neigungen entspricht

Auch für Führungskräfte stellt sich inzwischen vermehrt die Sinnfrage, wurde auf der NWX deutlich. Nina Zimmermann, CEO der XING-Schwesterorganisation Kununu, gehe zur Arbeit, „weil ich mich wertgeschätzt fühle und das Gefühl habe, etwas Wichtiges zu tun.“ Unter anderem diese Wertschätzung sei neben der Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitgeber ein zentraler Punkt, um Sinnhaftigkeit zu schaffen, konstatierte auch Jutta Rump, die am Institut für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen lehrt. Auf der Führungsebene bedeute das aber auch, sich selbst zu hinterfragen: „Die eierlegende Wollmilchsau gibt es in der Führung nicht. Wir müssen in Zukunft in Führungsteamstrukturen denken.“

Wolfgang Grupp, Gründer des Textilunternehmens Trigema, brachte eine andere Perspektive in die Diskussion ein. Ihm zufolge „verlustiert" man sich im Homeoffice. Schon lange gebe es bei Trigema keine Einzelbüros mehr, alle seine 30 Mitarbeiter säßen in einem Großraum, „und ich mittendrin", berichtet der 80-jährige Unternehmer. Auf diese Weise sehe er alle, „auch, ob jemand telefoniert und ich ihn anrufen kann". Wichtig zu sein, gebraucht zu werden, das sei für die Mitarbeiter eine Form der Anerkennung, die nur in Präsenz gelänge, betonte Grupp. Auch an seine beiden Kinder, die derzeit um die Nachfolge im Wettlauf stehen, hatte er eine Botschaft mitgebracht: „Meine Nachfolger können alles anders machen als ich. Aber sie müssen dafür dann auch die Verantwortung übernehmen.”

Wolfgang Grupp, Gründer von Trigema

Der US-Autor John Strelecky, bekannt für Bestseller wie Das Café am Rande der Welt, plädierte dafür, achtsamer mit der eigenen Lebenszeit umzugehen: „Der Amazon-Bote wird nicht klingeln und Dir mehr Freizeit liefern. Dafür musst Du schon selbst etwas tun“, sagte er. Strelecky muss es wissen. Kaum ein Autor verkauft derzeit so viele Bücher wie Strelecky weltweit: Alle 19 Sekunden erwirbt jemand einen seiner Ratgeber. 

Vor einem vollen Saal sprach auch Bestsellerautorin, Psychologin und XING Insiderin Stefanie Stahl. Sie stellte klar, dass gängige psychologische Dimensionen aus dem Privaten auch auf der Arbeit gelten. Aus diesen vier psychologische Dimensionen ergeben sich 16 Persönlichkeitstypen, so Stahl. Ein gutes Team hat unterschiedliche Typen, aber: „Auch im Job gilt: Gleich und gleich gesellt sich gerne.“ Um eine erfüllende Tätigkeit zu verrichten, sollte man sich wichtige Fragen wie „Stimmt das Unternehmen mit meinen Werten überein?“ oder „Entspricht mein Job meinen Neigungen?“ beantworten.

Stefanie Stahl, Bestsellerautorin, Psychologin und XING Insiderin

Dinge auch wieder verlernen können

Die XING Insiderinnen Kerstin Hochmüller, Chefin des Mittelständlers Marantec Group, Anja Hendel, Geschäftsführerin der Digitalagentur Diconium und Glücksforscherin Maike van den Boom diskutierten auf einem Panel am Nachmittag darüber, welche Fähigkeiten Arbeitnehmende und Organisationen mitbringen müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Neben Resilienz, Empathie und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit einigten sich die drei Expertinnen zudem darauf, dass es auch wichtig sei, Altes zu verlernen, um Neues aufbauen zu können. „Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir Probleme immer nur durch ein besseres Produkt lösen können. So entsteht nichts Neues", sagte Hochmüller. „Der Glaube, wir müssten zurück in die Zeit vor Corona, ist falsch. Wir sollten beginnen, die neue Komplexität zu umarmen, ja, lieb zu gewinnen, statt sie abzulehnen", fügte Hendel hinzu. Und van den Boom resümierte: „Wir müssen die Angst loslassen. Sicherheit bedeutet nicht Stabilität, sondern Flexibilität."

HR auflösen und neu aufstellen

Eine programmatische Forderung stellte schließlich Vera Schneevoigt, CDO Bosch Technologies. Die Top-Managerin hat vor Kurzem auf XING verkündet, ihre Karriere zu beenden, um Zeit für die Pflege der eigenen Eltern zu haben. Viele Unternehmen seien mit dem Thema Vereinbarkeit von Pflege und Arbeit überfordert, obwohl es eine der wichtigsten Herausforderungen in einer zunehmend alternden Gesellschaft sei. Schneevoigt sagte: „HR ist keine Verwaltungsposition mehr. Am besten wäre es, wenn wir HR auflösen würden und neu aufstellen“.

Über 100 Speaker·innen teilten am 20. Juni mit den rund 2.000 Teilnehmer·innen in der Hamburger Elbphilharmonie ihre Erfahrungen und Ideen zur Arbeitswelt von morgen.

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