Radikale Ehrlichkeit im Job: Wie viel Wahrheit verträgt die Karriere?

„Chef, das Projekt ist totaler Schwachsinn“ – darf man im Job so ehrlich sein? Laut dem Kommunikationstrend „radical honesty“ soll man es sogar. Doch wie klug ist es, immer zu sagen, was man denkt?

Prof. Dr. phil.  Jens Weidner
  • Wenn Ihr Chef nach Ihrer ehrlichen Meinung fragt, kann das heikel werden
  • Kritisieren Sie Ihren Chef vor Kollegen, ist das beruflicher Suizid
  • Suchen Sie lieber einen ruhigen Moment und das Vier-Augen-Gespräch

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Wenn Sie Ihr Chef nach Ihrer Meinung fragt, fühlt sich das wie ein Ritterschlag an. Doch Vorsicht: Nutzen Sie die Gunst der Stunde und zeigen ihm, wie brillant Sie sind, können Sie Ihre Karriere vergessen. Es gibt einen klügeren Weg, den des „authentischen Lügens“.

Wir, der Chef, alle Abteilungsleiter und ich, sitzen in der Leitungsrunde im 14. Stock. Im Blauen Salon. Mein Chef fixiert mich, denn er ist an meiner Expertise interessiert. Er fragt: „Was läuft aus Ihrer Sicht derzeit nicht gut bei uns?“ Spontan fallen mir drei Punkte ein, die ihm alle nicht gefallen werden, denn sie liegen in seinem Verantwortungsbereich. Nur, wie sage ich es ihm? Brutal ehrlich? Immerhin hat er mich ja direkt gefragt. Das wäre brutal dumm.

Wir überschätzen die Kritikfähigkeit unserer Chefs gern. Merken Sie sich: Chefs fragen dann nach kritischen Rückmeldungen, wenn sie sich für unfehlbar halten. Besonders Männer beherrschen diese Form der Selbstüberschätzung. Und dann kommen Sie mit Ihrer brutalen Ehrlichkeit – und das vor versammelter Mannschaft. Ihr Chef wird sich äußerlich für Ihre Offenheit bedanken. Innerlich wird er Sie hassen. Sie haben ihn öffentlich gedemütigt und damit seinen Status als Nummer eins hinterfragt. Mehr Karrieresuizid geht nicht. Und um brutal ehrlich zu sein: Diesen Tod haben Sie verdient. Denn Sie haben eine wichtige informelle Machtregel missachtet – Kritik nie öffentlich formulieren, sondern immer in gedämpfter Tonlage unter vier Augen!

Ich rette die Situation mithilfe einer authentischen Lüge

Ich persönlich beachte das mit großer Leidenschaft und mit noch größerem Erfolg. Um bei unserem Beispiel im 14. Stock zu bleiben: Ich antworte meinem Chef im Sinne des authentischen Lügens. Das heißt, noch verrate ich ihm meine Kritik nicht. Stattdessen sage ich: „Puh, schwierige Frage. Lassen Sie mich kurz nachdenken. Wir können ja mit der ganzen Richtung derzeit sehr zufrieden sein. Aber das war ja nicht Ihre Frage. Lassen Sie mir bitte etwas Zeit, ich will hier keinen Schnellschuss machen. Ist es okay, wenn ich mich dazu zeitnah dezidiert bei Ihnen melde?“ Die Antwort des Chefs wird immer lauten: „Ja, natürlich.“

Eine Stunde später gehe ich dann zu meinem Chef ins Büro und nenne ihm die drei Punkte in gedämpfter Tonlage unter vier Augen. Und wenn er das wünscht, inklusive meiner Optimierungsvorschläge. Mein Chef kann meine Kritik annehmen oder sie verwerfen. Er verliert in dieser Zweiersituation weder sein Gesicht, noch erlebt er eine öffentliche Statusbeschneidung. Ganz im Gegenteil: Im besten Falle schätzt er meine dezente, fachliche Rückmeldung. Sie ist für ihn ein Beweis meiner Fairness und Loyalität. Das zeigen meine eigenen Erfahrungen und die Interviews mit 1000 Chefs, die ich unter anderem am Gottlieb Duttweiler Institut in Zürich geführt habe. Mein brutal offener Kollege dagegen wird mein Vorgehen als Schleimerei bezeichnen. Ich nenne es Intelligenz. Nun raten Sie einmal, mit welcher Führungskraft die meisten Chefs in schwierigen Phasen lieber zusammenarbeiten.

Daher meine dringende Empfehlung: Hören Sie nicht auf die mit der Authentizitätsmacke. Seien Sie ehrlich. Aber intelligent ehrlich, nicht brutal dumm.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser: Was halten Sie selbst davon, zu anderen Menschen brutal ehrlich zu sein? Haben Sie es vielleicht schon selbst einmal ausprobiert oder könnten es sich vorstellen?

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Prof. Dr. phil.  Jens Weidner
© Prof. Dr. phil. Jens Weidner
Prof. Dr. phil. Jens Weidner

Managementtrainer und Kriminologe, HAW Hamburg

Weidner (Jg. 1958) lehrt Kriminologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, ist Autor von „Optimismus. Warum manche weiter kommen als andere“ (Campus) und ist im Vorstand des Clubs der Optimisten. Zehn Jahre lang behandelte er Kriminelle und entwickelte das „Anti-Aggressivitäts-Training“ für Gewalttäter. Außerdem untersucht er Machtspiele im beruflichen Umfeld, lehrt dazu als Managementtrainer am Schranner Negotiation Institute in Zürich und hält Businessvorträge.

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