Theresa Mays Abstimmungsdesaster: Wie geht es weiter mit dem Brexit?

Nur noch wenige Wochen bis zum Austritt Großbritanniens aus der EU – und noch immer ist die britische Regierung ohne Plan. Welche Optionen hat die Premierministerin? Wie chaotisch wird der Brexit?

Prof. Dr. Thomas Jäger
  • Kurz vor dem Brexit versuchen sich die Parlamentarier in Schadensbegrenzung
  • Doch die Vorschläge, die sie liefern, sind reines Wunschdenken
  • Die EU will es jetzt offenbar auf eine Konfrontation ankommen lassen

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Kaum zu glauben, dass das noch möglich ist, aber: Die Verwirrung rund um die britischen Brexit-Pläne hat durch das letzte Votum des Unterhauses tatsächlich noch zugenommen. Die Vorgeschichte in aller Kürze: Nachdem Premierministerin May für ihren Brexit-Plan im Parlament keine Mehrheit fand, haben am Dienstag einige britische Abgeordnete versucht, die aus ihrer Sicht schlimmste Variante, einen Brexit ohne Vertrag mit der EU, noch zu vermeiden. Nach Wochen des politischen Stellungskrieges sollten nun konstruktive Vorschläge zur Abstimmung gebracht werden.

Um folgende Anträge ging es:

  • Den Brexit bis zum Ende des Jahres aufzuschieben, sofern Theresa May bis zum 26. Februar keinen neuen Deal erreicht hat
  • Ein Ablaufdatum für den umstrittenen „Backstop“. Mit dieser Vereinbarung soll eine Zollgrenze zwischen Irland (EU-Mitglied) und Nord-Irland (dann kein EU-Mitglied mehr) verhindert werden. Das aber hält Großbritannien auf Dauer in der Zollunion.
  • Ein Gesetz, das einen Brexit ohne Deal verbietet.
  • Ein Verbleib in der Zollunion (inklusive deren Regeln) oder aber ein erneutes Referendum
  • Eine Bürgerversammlung und nicht das Parlament soll das weitere Vorgehen festlegen.
  • Ein Stimmungstest, bei dem das Parlament über mögliche Varianten gewissermaßen zur Probe abstimmt.

Eine Mehrheit fanden schließlich zwei Anträge. Erstens soll es keinen No-Deal-Brexit geben. Aber das ist nur eine unverbindliche Absichtserklärung. Es bedeutet weder einen Aufschub noch ein zweites Referendum noch eine Rücknahme des Austritts. Es bedeutet nur, das man das gerne hätte: ein Luftschloss.

Konkreter wurde der zweite Beschluss: Es soll neu über den Backstop verhandelt werden. Aber das will die britische Regierung schon die ganze Zeit und die EU lehnt dies ab. Jetzt steht auch noch das Parlament hinter dieser Forderung, sie hat also mehr „politisches Gewicht“. Aber wird das etwas ändern? Nein. Die EU will nicht verhandeln Sie will sich in Grundsatzfragen nicht auseinanderdividieren lassen. Gut möglich, dass beide Seiten bis zur letzten Sekunde erwarten, dass die Gegenseite umfällt, einknickt und nachgibt. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.

Die erneute Abstimmung am Dienstagabend macht vor allem eines deutlich: Ohne Vertrag – also „No Deal“ beziehungsweise harter Brexit - wollen nur die wenigsten Parlamentarier austreten. Warum? Weil viele das Chaos kommen sehen.

De facto gibt es weiterhin – allein aufgrund der Zeit, denn am 29. März ist Großbritannien kein EU-Mitglied mehr – nur noch drei Wege, einen Austritt ohne Vertrag zu verhindern:

  • Das Unterhaus stimmt dem Brexit-Deal doch noch zu.
  • Die Frist von Artikel 50 wird im Konsens mit allen 27 EU-Staaten verlängert.
  • Der Austritt wird zurückgezogen.

Nichts davon ist besonders wahrscheinlich, weshalb die Lage jetzt völlig verfahren ist. Die EU lehnt Nachbesserungen ab. Die Premierministerin lehnt ein zweites Referendum ab. Die Iren in Norden und Süden lehnen eine Grenze ab. Aber ohne Grenze bleibt Großbritannien in der Zollunion und das lehnen die Brexit-Befürworter ab.

Was wären die politischen Folgen?

Über die wirtschaftlichen Folgen ist viel geschrieben worden. Der Tenor: nichts ist wirklich vorbereitet. Aber was wären die politischen Folgen?

Wenn der Austritt verschoben würde, um Zeit zu gewinnen, finden auch in Großbritannien Europawahlen statt. Die EU-kritische Fraktion im EP würde noch stärker als erwartet, die Haushaltsverhandlungen wären noch schwieriger und keines der Brexit-Probleme gelöst. Man würde darauf setzen, dass sich später eine neue Tür öffnet.

Vielleicht doch ein zweites Referendum? Ginge es erneut zugunsten des Austritts aus, wäre Großbritannien auf lange Zeit die Rückkehr zur EU versperrt; gewinnt „Remain“, wären Dolchstoßlegenden die prompte Reaktion. Denn die britische Gesellschaft ist in dieser Frage tief gespalten, die Positionen unüberbrückbar. Großbritannien verliert noch mehr. Premierministerin Mays Idee von „Global Britain“, die nach der Brexit-Entscheidung gehypt wurde – endlich frei, mit der ganzen Welt Handelsverträge abzuschließen! – ist inzwischen tot, sie ist auf ein Quasi-Norwegen-Format zusammengeschrumpft: Mitglied der Zollunion, keine eigenen Handelsverträge, aber auch in der EU nichts zu sagen.

Denn zentrale Widersprüche sind nicht zu lösen: Großbritannien kann keine eigene Handelspolitik treiben und gleichzeitig Mitglied der Zollunion sein. Bleibt die Grenze zu Irland offen, bleibt Großbritannien in der Zollunion. Wird sie geschlossen, droht erneut Gewalt in der irischen Frage. Die Furcht davor geht schon um.

Die EU wird ebenfalls politischen Schaden erleiden

Und für die EU? Wer meinte, es sei gut, wenn die Briten gehen, lag von Beginn an falsch. Die EU wird erheblich geschwächt, sie verliert ihre zweitgrößte Wirtschaft, einen militärisch handlungsfähigen Staat, ein diplomatisch bestens vernetztes Mitglied, einen Sitz im VN-Sicherheitsrat und wird kulturell ärmer. Die Großmächte USA, Russland und China haben bald noch einen weiteren Hebel gegen die EU in der Hand; der internationale Einfluss der EU schwindet weiter.

Zudem behalten auch nach dem Austritt die Briten ihre Interessen und ihre besonders engen Freunde auf dem Kontinent. So schleuste Polen schon während der Brexit-Verhandlungen Zwistigkeiten in die starke Einigkeit der EU-Staaten hinein. Und die Beziehungen zu Großbritannien werden die EU immer wieder entzweien. Die skandinavischen und osteuropäischen Staaten werden stärker das Land zugehen wollen als die südlichen EU-Staaten. Deutschland sitzt wohl zwischen diesen Stühlen. Das wird die Konsensfindung in der EU nicht erleichtern. Je härter die Folgen eines No-Deal-Brexits, desto belasteter werden die Beziehungen sein.

Die tiefe Spaltung der britischen Gesellschaft, die andauernde Disharmonie der EU-Staaten gegenüber Großbritannien, dessen Interesse, am Rande der EU wirtschaftlich erfolgreich zu sein werden die Beziehungen prägen. Und bricht die Gewalt in Nordirland wieder aus, war der Brexit nicht nur ein Fehler, sondern ein blutiger Fehler.


Anmerkung des Autors: Dies ist die aktualisierte Version des Textes von Dienstagabend. In der ersten Version waren die Abstimmungsergebnisse noch nicht enthalten.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser! Wie empfinden Sie die Situation in Großbritannien? Welche der diskutierten Lösungen würden Sie begrüßen und warum? Wir freuen uns auf eine lebhafte Debatte!

Veröffentlicht:

Prof. Dr. Thomas Jäger
© Privat
Prof. Dr. Thomas Jäger

Professor für internationale Politik/Außenpolitik, Universität Köln

Der Politikwissenschaftler ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln. Er gehört dem wissenschaftlichen Direktorium des Instituts für Europäische Politik und dem wissenschaftlichen Beirat des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr an. Ferner gibt er die Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik heraus. Zuletzt veröffentlichte er einen Essay zum Ende des amerikanischen Zeitalters.

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