Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Verhandlungstermin am 4. Oktober 2017 sehr ausführlich mit den aktuell geltenden staatsvertraglich und verordnungsrechtlich fixierten Regeln zur Vergabe von Medizinstudienplätzen befasst. Praktisch unverändert dürften die verfassungsrechtlichen Grundaussagen bleiben, also: Der im Grundgesetz verbürgte Hochschulzugangsanspruch jedes hochschulreifen Bewerbers kann bei Kapazitätsknappheit in einem Studiengang grundsätzlich beschränkt werden.
Für die Ausgestaltung des danach erforderlichen Vergabe-/Auswahlsystems hat der Gesetz- und Verordnungsgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Dabei muss er jedoch die verfassungsrechtlich vorgezeichneten Rahmenanforderungen einhalten. Dazu gehört zum einen die Vorgabe, dass die zu erfolgende Auswahl „sachgerecht“, „hinreichend chancenoffen“ und „chancengleich“ sein muss; zum anderen müssen die Kriterien und das Verfahren hinreichend gesetzlich „vorgesteuert“ werden sowie transparent und justiziabel sein. Im Grunde sind das Selbstverständlichkeiten. Die weitergehende Frage, ob angesichts des erheblichen Bewerberüberhangs der Staat verpflichtet sein könnte, zusätzliche Medizinstudienplätze bereitzustellen, hat das Gericht ausdrücklich als in den vorliegenden Verfahren nicht relevant ausgeblendet.
Unter Berücksichtigung der Standpunkte und Andeutungen des Gerichts im Termin wird man zu einzelnen Vergaberegeln folgern können:
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Kritisch ist die derzeitige Heranziehung der Abiturnote als „maßgebliches“ Auswahlkriterium im Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH-Quote). Die Abiturnote ist zwar nach Expertenmeinungen neben dem Medizinertest einer der besten Prädiktoren für den Studienerfolg. Das Gericht erörterte aber intensiv, ob angesichts festzustellender deutlicher Notenunterschiede zwischen den Bundesländern die gebotene Vergleichbarkeit für eine zentrale Auswahl gewährleistet sei. Wohl könnte hier ein Regulativ erforderlich werden, seien es Länderquoten (wie in der Abiturbestenquote) oder ein sonstiger Mechanismus (zum Beispiel Prozentrang/Perzentil). Ungeachtet des Problems der Vergleichbarkeit sprach das Gericht auch den im geltenden Modell rechtlich und faktisch hohen Einfluss der Abiturnote („Maßgeblichkeit“) in der AdH-Quote kritisch an, weil damit die Chancenoffenheit stark eingeengt wird. Eine „Öffnung“ der AdH-Quote zugunsten einer stärkeren Gewichtung anderer Auswahlmerkmale würde hier sicher Abhilfe schaffen.
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Für die bisherige Auswahl nach Wartezeit zeigte das Gericht relativ wenig Sympathie, da sie grundsätzlich keine Aussage zu Eignung und Motivation der Bewerber zulässt. Als Hilfsquote neben leistungsorientierten Quoten dürfte sie jedoch zur Gewährleistung von Chancenoffenheit weiterhin zulässig sein. Dies gilt allerdings nur so lange, wie die konkrete Wartezeit angemessen bleibt. Wo die konkrete Grenze liegt, blieb im Verhandlungstermin offen. Zweifellos interessant war aber der Standpunkt des Gerichts, dass der Teilhabeanspruch des Bewerbers keine Garantie beinhaltet, durch Warten zu einem Studienplatz zu gelangen. Dies könnte durchaus als Einladung verstanden werden, die allseits ungeliebte Wartezeitquote durch eine sinnvollere abiturnotenunabhängige Quote zu ersetzen, zum Beispiel eine reine Testquote.
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Zu dem Kriterium Interview/Auswahlgespräch hat die Expertenbefragung in der Verhandlung gezeigt, dass hoher Aufwand und nur bedingte Aussagekraft ein deutliches Fragezeichen an dieses Auswahlinstrument setzen, zumal wenn die Fragenkataloge und die Bewertungsmaßstäbe der Interviews offengelegt werden müssen. Bei entsprechender Vorbereitung sagen die Bewerber dann letztlich das, was die Auswahlkommission hören will. Damit ist wenig gewonnen. Hinzu tritt die schwierige Justiziabilität dieses Auswahlinstruments. Das Gericht war zwar nicht ablehnend, aber stirnrunzelnd.
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Deutlich kritisch hat sich das Gericht zum Einfluss der Ortsprioritäten auf die Vorauswahl und vor allem auf das Ranking der Studienbewerber positioniert. Entsprechendes gilt für die derzeitigen Gestaltungsspielräume der Hochschulen bei der Bestimmung der Auswahlkriterien. Bemängelt wurde insbesondere die hieraus resultierende Intransparenz der Vergabe, die es den Bewerbern kaum ermöglicht, ihre Zulassungswünsche nach dem Grad der Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Zulassung auszurichten.
Fazit: Das bestehende Vergabesystem zeigt gewisse verfassungsrechtliche Blessuren. Es ist daher zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht Korrekturen verlangen wird. Der vorliegende Entwurf eines neuen Staatsvertrages, der von einzelnen Bundesländern bereits ratifiziert wurde, dürfte als heilendes Pflaster nicht ausreichen. Auf die Länder wird daher die Aufgabe zukommen, im Rahmen des zweifellos verbleibenden Gestaltungsspielraums die verfassungsrechtlichen Defizite auszuräumen.
Der aktuelle Vorschlag des Medizinischen Fakultätentages, der von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden mitgetragen wird, könnte dabei eine inhaltliche Richtlinie für eine sachgerechte Therapie des Systems sein. Klar muss aber leider bleiben, dass jedwede Korrektur des Vergabemodells nichts an dem grundlegenden Dilemma ändert, dass die Anzahl der Medizinstudienplätze bei Weitem nicht ausreicht, um alle Studierwünsche zu befriedigen.
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