Als der DGB unlängst seine Vorschläge bekannt gab, wie die deutsche Wirtschaft zu einer höheren Tarifbindung kommen könnte, fegte ein Sturm durchs Arbeitgeberlager. Entsetzen! Freiheitsberaubung! Dadurch werde die Tarifautonomie abgeschafft!
Jetzt aber mal ehrlich: Wenn jemand die Tarifautonomie abschafft, dann doch die Arbeitgeber. Die Tarifbindung liegt derzeit bei 59 Prozent der Beschäftigten im Westen und bei 49 Prozent im Osten – Ende der 1990er-Jahre lag sie im Westen bei 76, im Osten bei 63 Prozent. Das ist Tarifflucht, nicht Tarifautonomie. Und an dem Rückgang sind die Arbeitgeber schuld. Es sind die Arbeitgeber, die ihre Firmen in Einzelteile zerlegen und dann sagen: In der Subsubsubabteilung meines Konzerns gilt damit kein Tarifvertrag mehr. Sie sind es, die anständige Tarifverträge verweigern. Nehmen wir nur mal Amazon, den Versandhändler, der sich seit Jahren weigert, Tarifverträge für das zu verhandeln, was er ist: Versandhändler. Stattdessen „orientiert“ er sich an Logistiklöhnen. Es sind die Arbeitgeber, die alles, was nicht dringend notwendig ist – und auch mal Notwendiges –, outsourcen an Werkvertragsunternehmen oder Leiharbeitsfirmen, um Personalkosten zu senken. Es sind die Arbeitgeberverbände, die dubiose Unterklubs gründen, Stichwort „OT-Mitgliedschaft“, in denen man Mitglied ist, aber die Regeln nicht einhalten muss.
Tarifpartner haben Deutschland aus der Finanzkrise geführt
Tarifverträge und eine hohe Tarifbindung sind aber substanzieller Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Tarifverträge sichern für Beschäftigte bessere Löhne, mehr Urlaub und besser geregelte Arbeitszeiten. Über Tarifverträge gibt es in vielen Branchen eine bessere Rente. Tarifverträge sorgen für Weiterbildung. Mit Tarifverträgen wird vereinbart, wie man in den Betrieben mit Digitalisierung und Datenschutz umgeht. Tarifverträge bedeuten Sicherheit – für die Beschäftigten, aber auch und in gleichem Maße für die Arbeitgeber. Sie schützen Betriebe vor schmutzigem Dumping und sind längst Werbemittel im Kampf um heißbegehrte Fachkräfte. Und nicht zuletzt: Die Tarifpartner haben Deutschland mit diesen Verträgen aus der Finanzkrise geführt – nicht die regellosen Billiglöhner.
Regeln müssen eingehalten werden
Also brauchen wir mehr davon, nicht weniger. Die Vorschläge des DGB führen genau dahin, zu mehr Tarifbindung: Wer sein Unternehmen bis zur Unkenntlichkeit zersplittert, muss den Tarifvertrag auf die Subunternehmen übertragen. Schluss mit den OT-Mitgliedschaften – Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband heißt: Regeln einhalten. Und wenn in einer Branche ein Arbeitgeberverband ebenso wie die Gewerkschaft will, dass ein Tarifvertrag für die ganze Branche gilt und Schmutzkonkurrenz ausschließt, dann darf keine Minderheit irgendwelcher Arbeitgeber, die nichts mit der Branche zu tun haben, das im Tarifausschuss ablehnen. Gewerkschaften müssen in Betrieben werben dürfen – nicht nur jedes halbe Jahr, wir sind schließlich kein Entwicklungsland. Immer mehr Menschen arbeiten selbstständig – oft nicht freiwillig, wie bei vielen Plattformen, und unter deutlich schlechteren Bedingungen als in Betrieben –, also muss es auch möglich sein, dass sie unter den Schutz von Tarifverträgen fallen.
Mit diesen Vorschlägen will der DGB moderne Rahmenbedingungen setzen – für mehr Tarifbindung und damit für mehr Sicherheit. Die fordern Arbeitgeber ja selbst bis ins kleinste Detail, wenn es um ihre Geschäftsinteressen geht, um Steuervorschriften oder Umweltschutz. Aber Beschäftigte dürfen nicht mehr Sicherheit erwarten? In Österreich ist die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen deutlich besser geregelt. Dem Land geht es nicht schlecht mit der hohen Tarifbindung.
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