Gesellschaft der Zukunft: Was können wir gegen Altersarmut tun?

Die „armen“ Alten werden immer mehr. Fast jeder fünfte lebt von weniger als 999 Euro im Monat. Grundrente, Mindestrente oder zusätzliche bedarfsgeprüfte Leistungen - was können die Konzepte?

Wenn Menschen sich keine Butter fürs Brot leisten können

Lydia Staltner

Geschäftsführender Vorstand, Seniorenhilfe Lichtblick e.V.

Lydia Staltner
  • Unser Verein Seniorenhilfe Lichtblick hilft armen Rentnern
  • Sie tragen löchrige Kleidung und können sich absolut nichts leisten
  • Die Politik redet das Problem klein, doch wir kennen Tausende von Fällen

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Auf das Thema Altersarmut wurde ich 2003 aufmerksam. Damals fiel mir in München eine alte Frau auf, die ihren Rollator immer ganz langsam an unserem Mehrfamilienhaus vorbeischob. Sie trug winters wie sommers immer den gleichen zerschlissenen Mantel und die gleichen alten Schuhe. Erst verstand ich gar nicht und fragte mich: Warum trägt die bei 30 Grad im Sommer einen Wintermantel? Damals war Altersarmut für mich ein Fremdwort. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Die Dame hat nichts zum Umziehen, sie trägt alles am Leib, was sie hat.

Von da an stand für mich fest: Ich tue was für alte Menschen. Einige Kollegen und Freunde haben mich zuerst ausgelacht. Einige meinten: Mach doch lieber Karriere oder heirate.

Aber ich bin eine echte Münchnerin, das heißt, ich lebe in einer wunderschönen Stadt und in einem wunderschönen Land. Und dafür bin ich älteren Menschen dankbar, denn sie haben dieses Land nach dem Krieg wiederaufgebaut.

„Ich helfe alten Menschen, schickt mir welche“

Also blieb ich bei meinem Plan, gründete mit sechs anderen den Verein „Seniorenhilfe Lichtblick“ und mietete mir ein kleines Ladenbüro, weil ich wollte, dass die Menschen zu mir kommen können. Dann ging ich an die Presse und rief fremde Firmen an, die ich um Spenden bat. Ich holte mir viele Abfuhren; eine Firma meinte zum Beispiel „Nein, das ist nicht unsere Zielgruppe“. Aber es gab auch Unternehmen, die etwas spendeten, Geld oder Sachleistungen wie beispielsweise Schuhe. Als Nächstes meldete ich mich bei Münchner Landratsämtern, Altenservice- und Sozialzentren und sagte denen: „Mich gibt’s, ich helfe alten Menschen, schickt mir welche.“

Einige haben zuerst gedacht, dass ich Spaß mache. Aber ich habe Zettel gedruckt und bin immer wieder in die Öffentlichkeit gegangen. Im vierten Jahr nach der Vereinsgründung haben der „Münchner Merkur“ und die Sparda-Bank München zusammen mit unserem Verein eine vorweihnachtliche Spendenaktion gestartet, es wurde ausführlich über uns berichtet – von da an kam die Sache in Fahrt. Heute sind wir an drei Standorten und haben mehr als 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wir bewirken etwas: Allein in den vergangenen dreieinhalb Jahren haben wir 15.200 Menschen helfen können, und diese Menschen begleiten und unterstützen wir lebenslang. Inzwischen schicken sogar das Rote Kreuz, die Diakonie oder die Malteser alte Menschen zu uns, weil ihnen selbst die Mittel für deren Unterstützung fehlen.

Nachdem sie einen Bedürftigkeitsantrag bei uns ausgefüllt haben, können wir den Menschen oft helfen: mal mit Einkaufsgutscheinen, mal mit gebrauchten Elektrogeräten oder anderen Dingen des Alltags. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Krankenkassen für bedürftige Personen Brillen erst ab einer Fehlsichtigkeit von über sieben Dioptrien übernehmen? Alte Menschen müssen ja nicht lesen! Oder?

20 Jahre auf derselben alten Matratze

Unter unseren Kunden sind Männer und Frauen, die am Ende des Monats keine fünf Euro mehr übrig haben und die sich keine Butter für ihr Brot mehr leisten können. Leute, die aus ihren Wohnungen rausmussten und fast alle Möbel zurückgelassen haben, weil sie sich keinen Umzug leisten konnten. Die schlafen zum Teil seit 20 Jahren auf derselben Matratze. Es gibt Senioren, die kommen immer nur im Sommer zu uns: Ihre Schuhe sind so löchrig, dass sie sich nur in der warmen Jahreszeit zu uns trauen. Die Schicksale dahinter berühren mich noch immer, sind aber auch ein wahnsinniger Antrieb, dass niemand mehr hungern soll.

Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, dem Staat zu sagen, was er tun muss. Ich bin von unserer Regierung dennoch sehr enttäuscht. Politiker behaupten gern, es gäbe so gut wie keine Altersarmut. Doch unserer Erfahrung nach beantragt im Schnitt von drei bedürftigen Alten nur einer die staatliche Grundsicherung. Die Menschen sind oft zu stolz, überfordert, oder sie haben Angst vor einer vermeintlichen Demütigung. Doch das Leid und die Not sind da!

Wir müssen die Lebensleistung stärker anerkennen

Aktuelle Studien warnen, dass jeder fünfte Bürger von Altersarmut bedroht ist. Man muss sich nur vor Augen halten: Wer 45 Jahre lang jeden Monat 3000 Euro verdient hat, dem bleiben nach Abzug von Steuern, Krankenversicherung et cetera noch etwa 1100 Euro Rente. Davon geht wiederum mittlerweile die Hälfte für Miete ab, der Rest bleibt für Nahrung und Kleidung. Zum Zurücklegen bleibt jedenfalls für sehr, sehr viele nichts übrig: Was sollen denn bitte Menschen, die heute im Niedriglohnbereich arbeiten, wie Arzthelferinnen oder DHL-Lieferanten, fürs Alter ansparen?

Ich bin der Ansicht, dass wir die Lebensleistung der Menschen stärker anerkennen müssen. Ein erster Schritt wäre schon mal, dass Frauen genauso viel verdienen wie Männer. Und dass Männer beispielsweise ihre Frauen unterstützen, wenn die ihr Studium beenden wollen. Zudem sollten wir unser ganzes Rentensystem hinterfragen: Eine Mindestrente müsste 1400 bis 1500 Euro betragen. Die 900 Euro, die im Gespräch sind, sind doch ein Schmarren – da muss man sofort wieder aufs Amt, um Zuschüsse zu beantragen. Und wenn der Staat sich mal wieder feiert, dass er die Renten anhebt, dann wird gern verschwiegen, dass durch diese Erhöhung wiederum plötzlich die Rente von Hunderttausenden Senioren steuerpflichtig wird.

Ich kenne die Lösung nicht, aber ich weiß: Diese alten Menschen brauchen unsere Hilfe, und zwar jetzt.

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Lydia Staltner
© Lydia Staltner
Lydia Staltner

Geschäftsführender Vorstand, Seniorenhilfe Lichtblick e.V.

Lydia Staltner (Jg. 1959) ist geborene Münchnerin und gelernte Werbekauffrau. 2003 gründete die Inhaberin einer kleinen Werbeagentur den Verein „Seniorenhilfe Lichtblick“, mit dem sie und ihre Mitstreiter gegen Altersarmut kämpfen. Zahlreiche Unternehmen und Prominente unterstützen das Projekt mittlerweile. Wer spenden möchte, kann dies hier tun: Stadtsparkasse München, IBAN: DE20 7015 0000 0000 3005 09, oder Sparda-Bank, IBAN: DE30 7009 0500 0004 9010 10. XING ist in keiner Weise mit dem Verein verbunden.

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