Theresa Mays Abstimmungsdesaster: Wie geht es weiter mit dem Brexit?

Nur noch wenige Wochen bis zum Austritt Großbritanniens aus der EU – und noch immer ist die britische Regierung ohne Plan. Welche Optionen hat die Premierministerin? Wie chaotisch wird der Brexit?

Brexit Day in London: vier Optionen für Großbritannien

Ron van het Hof
  • Die Abstimmung zum EU-Austritt wird zum echten Showdown
  • Doch trotz Theresa Mays Niederlage bleibt eine Einigung möglich
  • Die anhaltende Unsicherheit hat die britische Wirtschaft geschwächt

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Die Brexit-Verhandlungen scheinen wie eine unendliche Geschichte. Voraussichtlich am Montag geht das Inselspektakel in die Verlängerung. Was den Briten dann noch bleibt, sind vier Optionen: eine Last-Minute-Einigung (wahrscheinlich), eine Verlängerung von Artikel 50 (mittlere Wahrscheinlichkeit), ein „Bremain“ durch einseitigen Widerruf von Artikel 50 seitens Großbritanniens (unwahrscheinlich) und ein „No Deal“ Brexit (auch eher unwahrscheinlich). Aber was bedeuten diese Szenarien nun konkret?

Erste Option: ein Last-Minute Deal

Eine Einigung in letzter Sekunde ist weiterhin die wahrscheinlichste Option. Trotz des „Maydays“ am Dienstag hat die britische Premierministerin bereits angekündigt, dass sie bleiben und versuchen wird, weitere Zugeständnisse von Europa bei der Vereinbarung zu erhalten. Ihr eigener, freiwilliger Rücktritt ist – zumindest derzeit – also keine Option.


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Die Labour-Partei hat zudem ein Misstrauensvotum gegen die Regierung eingeleitet, das Theresa May aber voraussichtlich gewinnen wird. Das heißt, vermutlich geht es trotz dieser Episode erst einmal weiter mit der Protagonistin, bei der Drama Programm zu sein scheint.

Theresa May hat jetzt also drei Arbeitstage Zeit. Spätestens am Montag muss die britische Premierministerin erklären, wie es weitergehen soll, wie ihr Plan B aussieht. Dann folgt eine fünftägige Debatte. Um den 25. Januar herum könnte nach unserer Einschätzung eine erneute Abstimmung zu diesem Brexit-Deal 2.0 stattfinden und dann durch das Parlament kommen. Nach Mays heftiger Niederlage am Dienstag ist die Europäische Union (EU) vermutlich zu weiteren Zugeständnissen bereit, um den Geist des „No Deals“ aus der Welt zu schaffen.

Bei Mays Rückkehr nach Brüssel geht es vor allem darum, zusätzliche Zusicherungen zu erhalten, dass der irische Backstop vorübergehend sein wird – das ist die Hauptforderung der rebellierenden Tories.

Während der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen bleibt Großbritannien übergangsweise im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Diese Übergangsphase soll bis Ende 2020 gelten. Reicht die Zeit für eine abschließende Klärung der Nordirlandfrage allerdings nicht aus, halten sich beide Seiten offen, diese Phase auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Der sogenannte „Backstop“ ist also eine Art Auffanglösung, um harte Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden. Die Widerspenstigen unter den Tories wollen deshalb, dass der Deal ein genaues Enddatum für die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen enthält, damit es gar nicht erst zu dieser Notfalllösung kommt.

Selbst eine dritte Abstimmung des Parlaments über das Abkommen kann im Übrigen aktuell nicht ausgeschlossen werden. Das wäre bis Mitte Februar zeitlich noch möglich, um eine rechtzeitige Ratifizierung des EU-Parlaments (vor dem 29. März) zu ermöglichen.

Zweite Option: Ab in die Verlängerung

Eine Verlängerung von Artikel 50 über den 29. März 2019 hinaus ist die zweite der verbleibenden Optionen, mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit. Sollte der nächste Versuch, die Vereinbarung im britischen Parlament zu ratifizieren, erfolglos bleiben, ist eine Verlängerung sogar sehr wahrscheinlich.

Jener Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union regelt den Austritt eines Staates aus der Union und setzt diesem Staat eine Frist: Zwei Jahre nach dem Bekunden seines Austrittswillens endet die Mitgliedschaft in der EU. Das wäre bei Großbritannien somit Ende März der Fall. Es gibt aber immer mehr Spekulationen, dass das Vereinigte Königreich um eine Verlängerung dieser Frist bitten wird. Gerüchte deuten darauf hin, dass der Juli ein neues Datum sein könnte. Um Artikel 50 zu verlängern, müssen sowohl das britische Parlament als auch alle EU-Staaten zustimmen.

Bei anhaltenden Meinungsverschiedenheiten im britischen Parlament könnte die Verlängerung zudem von allgemeinen Wahlen oder sogar einem zweiten Referendum begleitet werden.

Eine Verlängerung von Artikel 50 wäre politisch sehr schwierig für May. In diesem Fall könnte sie tatsächlich entscheiden, zurückzutreten. Dann übernimmt entweder ein anderer Konservativer das Amt und bittet um ein Vertrauensvotum des Parlaments oder aber vorgezogene Wahlen könnten ausgerufen werden – entweder von Theresa May selbst oder im Falle eines verlorenen Vertrauensvotums vom designierten Nachfolger.

In diesem Fall könnte es tatsächlich zu einem zweiten Referendum über das Abkommen kommen. Allerdings bevorzugen sowohl Tories als auch die Labour-Partei derzeit eher ein ausgehandeltes Abkommen.

In beiden Fällen ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, und beide würden einige Zeit in Anspruch nehmen: mindestens 25 Tage für Parlamentswahlen (also höchstwahrscheinlich im März) und etwa drei bis vier Monate für ein zweites Referendum.

Dritte Option: Die Hintertür – alles zurück auf Los?

Ebenfalls aktuell eher unwahrscheinlich ist, dass das Vereinigte Königreich Artikel 50 einseitig widerruft. Großbritannien kann vom Brexit wieder zurücktreten, indem es Artikel 50 ohne Zustimmung der anderen EU-Mitgliedstaaten widerruft. Das hat der Europäische Gerichtshof am 4. Dezember entschieden. Insofern steht – zumindest theoretisch – die Hintertür noch offen, der „Bremain“ bleibt ein mögliches Szenario.

Vierte Option: No Deal?

Der harte Ausstieg ist ebenfalls weiterhin möglich, wenn auch kurzfristig eher unwahrscheinlich, da die Möglichkeit besteht, Artikel 50 zu verlängern. Zudem gibt es eine Mehrheit im Parlament, die einen Austritt mit einem Handelsabkommen befürwortet. Seit dem 4. Dezember können Abgeordnete im britischen Parlament zudem Gesetze vorschlagen, die es illegal machen, die EU ohne ein Abkommen zu verlassen.

Ein „No Deal“-Brexit könnte dann wahrscheinlicher werden, wenn die Blockadehaltung und Meinungsverschiedenheiten im Parlament während der verlängerten Verhandlungen anhalten und das Vereinigte Königreich eine erneute Verlängerung von Artikel 50 beantragt.

In diesem Fall könnten einige EU-Staaten eine erneute Verlängerung ablehnen. Das wäre für die EU allerdings sehr schwierig. Es würde die Anti-EU-Stimmung im Vereinigten Königreich befeuern sowie in anderen Staaten, in denen der Populismus auf dem Vormarsch ist.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hat das?

Die anhaltend hohe Unsicherheit hat die Widerstandsfähigkeit der britischen Wirtschaft deutlich geschwächt. Daher dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in 4. Quartal 2018 und 1. Quartal 2019 deutlich langsamer wachsen. Für das jährliche BIP-Wachstum im Jahr 2019 erwarten wir lediglich magere 1,2 Prozent.

Die Abwertung des Pfunds (mehr als zehn Prozent seit der Brexit-Abstimmung) hat die Einfuhrkosten erhöht und zu einem Rückgang der Margen der britischen Unternehmen geführt. Das reale Importwachstum im Jahr 2018 wird voraussichtlich unter einem Prozent liegen, dem niedrigsten Niveau seit 2011. Dies führte zu niedrigeren Absatzmengen westeuropäischer Unternehmen in Großbritannien. Wir schätzen, dass die Eurozone insgesamt seit der Brexit-Abstimmung rund 60 Milliarden Euro an potenziellen Absatzmöglichkeiten auf dem britischen Markt verpasst hat. Gewinner gibt es keine beim Brexit. Wirtschaft und Unternehmen leiden unter den Unsicherheiten, Kreditrisiken steigen.

Vorsicht, steigende Pleiten!

Seit Mitte 2018 nehmen die Unternehmensinsolvenzen auf der Insel zu und wir erwarten, dass sie bis 2019 um weitere neun Prozent ansteigen werden – im Falle eines „No Deals“ wären es sogar 20 Prozent mehr. Auch die Großinsolvenzen sind weiter auf dem Vormarsch: In den ersten neun Monaten 2018 waren es 14 Großpleiten gegenüber neun im gleichen Zeitraum 2017.

Entspannung ist also nicht angesagt – egal, wie die zweite Abstimmung ausgeht. Denn selbst eine Einigung in letzter Minute ist weiterhin ein „Blind Date“, bei dem alle Details erst in den kommenden Jahren ausgehandelt werden. Die Unsicherheit ist also gekommen, um zu bleiben. Das wird sich weiterhin in einem niedrigen Wirtschaftswachstum, hohen Unwägbarkeiten und geringer Planbarkeit von Investitionen oder Fusionen bemerkbar machen.


Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes lautete die Prognose für die Zunahme der Insolenzen bei einem No Deal noch 15 Prozent.


Diskutieren Sie mit, liebe Leserinnen und Leser! Was glauben Sie, wie es mit der EU und Großbritannien weitergehen wird? Wir freuen uns auf lebhafte Diskussionen!

Veröffentlicht:

Ron van het Hof
© Euler Hermes
Ron van het Hof

CEO, Euler Hermes Deutschland, Österreich und Schweiz (DACH)

Ronald van het Hof (Jg. 1964) ist CEO der DACH-Region sowie Hauptbevollmächtigter der deutschen Niederlassung von Euler Hermes. Seit 2013 war van het Hof CEO der Euler Hermes World Agency, die globale Einheit, die das weltweite Versicherungsgeschäft für Großkonzerne verantwortet. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Versicherungsbranche. Vor seiner Tätigkeit bei Euler Hermes war er von 2007 bis 2013 als CEO der Allianz Niederlande tätig und verantwortete das Sach- und Lebensversicherungsgeschäft.

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