Burn-out – Volksleiden oder Modekrankheit?

Gestresst und ausgebrannt: Immer mehr Deutsche klagen über psychische Leiden. Doch müssen Unternehmen und Gesellschaft wirklich etwas verändern – oder müssen wir einfach belastbarer werden?

Rüdiger Striemer
  • In vielen Unternehmen ist Burn-out noch immer ein Tabuthema
  • Psychische Erkrankungen werden versteckt – was sie schlimmer macht
  • Meine eigenen Erfahrungen mit dem offenen Umgang waren positiv

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Irgendwie ist es ruhiger geworden rund um das Thema Burn-out – aber nur in den Medien. Da draußen fallen weiterhin Woche für Woche zahlreiche Menschen aus ihrem normalen Leben, denen eine längere extreme Belastungssituation bei der Arbeit zum Verhängnis geworden ist. Sie sind depressiv geworden, haben irrationale Ängste, oder sie sind suchtkrank. Oder sie leiden unter einer Kombination aus all dem – und hatten lange damit zu tun, dies zu verstecken.

„Dass gerade Sie als Manager sich mit einer Angststörung outen – das ist besonders mutig!“ Das habe ich nicht nur einmal gehört; eigentlich ist das die übliche Dosis Respekt, die ich erhalte und die mich immer wieder ehrlich freut – und verwundert.

Die Angst war allgegenwärtig

Vor vier Jahren stand ich als Vorstandsmitglied eines erfolgreichen IT-Dienstleisters plötzlich vor dem Abgrund. Zuerst dieser undefinierte Schwindel, dann permanenter Kopfdruck – und dann die Angst. Erst situativ, dann andauernd, 24 Stunden am Tag. Viele meiner Freunde haben mich bereits damals, in dem für mich verhängnisvollen Winter, als ich mich aus freien Stücken in eine psychiatrische Klinik begeben habe, für „mutig“ gehalten. Dabei konnte von Mut keine Rede sein, ganz im Gegenteil – es war nichts anderes als pure Verzweiflung. Aber als dieser Schritt einmal getan war, habe ich tatsächlich keinen Moment mit dem Gedanken gespielt, irgendwas anderes als die Wahrheit zu erzählen. Ich habe damals mit meinen Kollegen verabredet, dass wir keine Märchen erfinden, sondern sagen, was ist.

Später, ein Jahr danach, als ich längst wieder zurück im Job war und ein Buch über meinen Weg in die Psychiatrie und zurück schrieb, war dann erst recht klar: Ich schreibe genau das, was ich an mir selbst beobachtet habe: die Verzweiflung, die Ironie und auch die Komik des Scheiterns. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als würden alle Menschen immer zu 100 Prozent funktionieren – gerade dadurch entstehen ja Angststörungen.

Nun kann man einwenden, dass ich in meiner materiellen Situation als Manager eines börsennotierten Unternehmens leicht das Risiko eines solchen Outings eingehen konnte. Und dazu sage ich: Ja, das stimmt. Ich weiß nicht, ob ich als Pflegekraft oder Supermarkt-Kassiererin (allesamt Berufe mit mindestens ebensolchem Potenzial für stressinduzierte Krankheiten) genauso gehandelt hätte.

Wer sich versteckt, gerät ins Abseits

Und genau hier liegt das Problem: In vielen Unternehmen herrscht noch immer eine Kultur, in der Burn-out und damit verbundene psychische Erkrankungen so lange wie möglich versteckt werden. Dabei sind Angststörungen und Depressionen sehr gut therapierbar – vorausgesetzt, der Patient ist einsichtig und arbeitet aktiv mit. Das geht aber nicht, solange er sich versteckt, denn dann hat er mit dem Verstecken zu tun und gerät immer weiter ins Abseits. Für einen Herzinfarkt kann man nichts, für psychische Krankheiten ist man selbst verantwortlich: Solche oder ähnliche Ansichten gibt es zuhauf. Immer noch. Dabei hat der, der sich ungesund ernährt und keinen Sport treibt, mehr für seinen Herzinfarkt getan als ich damals für meine Angststörung – ganz sicher. Natürlich müssen wir über Prävention reden. Und auch darüber, wie man krank machende Arbeitssituationen verhindert. Aber wir müssen auch darüber reden, dass psychische Erkrankungen nun mal vorkommen. Und vorkommen dürfen. Einfach so. Schon das würde helfen – weil es das Versteckspiel unnötig macht.

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Rüdiger Striemer
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Rüdiger Striemer

Chief Marketing Officer, adesso AG

Rüdiger Striemer (Jg. 1968) ist seit Mitte 2015 Chief Marketing Officer und Leiter der Auslandsgesellschaften bei der adesso AG. Zuvor war er 14 Jahre lang im Vorstand des schnell wachsenden IT-Dienstleisters, bei dem er nach seiner Promotion in Informatik an der TU Berlin einstieg. Über seine Burnout-Erfahrungen hat er ein Buch veröffentlicht: „RAUS! - Mein Weg von der Chefetage in die Psychatrie und zurück“ ist im Berlin Verlag erschienen.

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