Unter 8,84 Euro – Dürfen Geflüchtete zu Billiglöhnern werden?

Die Bundesregierung erwägt Abweichungen vom Mindestlohn für Geflüchtete, die sich nachqualifizieren müssen. Kritiker geben zu bedenken, dass von dieser Regelung nur einer profitiert: der Unternehmer.

Mindestlohnausnahmen für Geflüchtete müssen tabu bleiben!

Stefan Körzell

Mitglied geschäftsf. Bundesvorstand, Deutscher Gewerkschaftsbund

Stefan Körzell
  • Arbeitgeber und Union fordern, Geflüchtete vom Mindestlohn auszunehmen
  • Beschäftigte werden zu Pflichtpraktikanten umdeklariert
  • Einfallstore zur Umgehung des Mindestlohns könnten größer werden

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Immer wieder geistern Vorschläge durch die Republik, nach denen der Mindestlohn nicht für Geflüchtete gelten soll. So fordern VertreterInnen aus Union und Wirtschaft, Flüchtlinge als Langzeitarbeitslose zu deklarieren und die ohnehin ins Leere laufende und diskriminierende Mindestlohnausnahme für Langzeitarbeitslose von derzeit sechs Monaten auf ein Jahr auszudehnen. Ein Jahr arbeiten für weniger als den Mindestlohn? Die Absicht dahinter: Die Arbeitskraft der Geflüchteten, die vermeintlich schlecht qualifiziert und der deutschen Sprache nicht mächtig sind, müsse möglichst billig sein, damit sich ein Betätigungsfeld findet. Wer das fordert, beschwört das alte Kombilohnmodell herauf. Es war aber unter anderem der Zweck des Mindestlohngesetzes, steuerfinanzierte Subventionierungen der Arbeitgeber, deren Geschäftsmodell auf Billiglöhnen beruht, endlich zu beenden.

Tatsächlich haben bestimmte Arbeitgeber mit dem Mindestlohn noch immer nicht ihren Frieden gemacht und versuchen, diesen Baustein eines geordneten Arbeitsmarkts als Jobbremse und Bürokratiemonster zu denunzieren – ungeachtet aller Fakten.
 Und es gibt auch schwarze Schafe unter den Arbeitgebern, die mit krimineller Energie die Unwissenheit oder schwierige Lage mancher ArbeitnehmerInnen ausnutzen und den Mindestlohn umgehen.

Vorrang hat der Tariflohn – Mindestlohn ist die Haltelinie nach unten

Umso wichtiger ist es da, dass der Staat alles daransetzt, dem Mindestlohn überall zur Durchsetzung zu verhelfen. Dazu gehören engmaschige Kontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) auch bei kleineren mindestlohnrelevanten Betrieben – etwa in der Gastronomie oder im Einzelhandel. Wir, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), fordern zudem, dass die Stellen bei der FKS auf 10.000 aufgestockt werden.
 Dazu gehört auch, dass die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitsbedingungen prüft, bevor ein Asylbewerber nach Ablauf des Arbeitsverbots einen Job annehmen kann. Es reicht eben nicht immer – wie manche Arbeitgeber meinen –, dem Geflüchteten den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Maßstab ist die ortsübliche Vergütung oder der Tariflohn; in manchen Branchen gelten tariflich vereinbarte Branchenmindestlöhne, die höher liegen als 8,84 Euro brutto pro Stunde. Diese haben immer Vorrang!

Und auch bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen Geflüchteter darf es keine neuen Einfallstore zur Umgehung des Mindestlohns geben. Aktuelle Rechtsauslegungen aus den Ministerien legen nahe, dass ausländische ArbeitnehmerInnen, die bereits eine Ausbildung mitbringen, in deutschen Betrieben noch mehrmonatige betriebliche Qualifizierungsphasen durchlaufen sollen, ohne dafür den Mindestlohn zu erhalten. Sie berufen sich dabei auf § 22 Mindestlohngesetz (Pflicht- oder Orientierungspraktika). Pflichtpraktika sind vom Mindestlohn ausgenommen. Aber kann ein Geflüchteter mit abgeschlossener Ausbildung und gegebenenfalls jahrelanger Berufserfahrung ernsthaft als Pflichtpraktikant eingestuft werden, nur weil der syrische Berufsabschluss nicht vergleichbar ist mit dem deutschen dualen Ausbildungssystem? Das war nie Absicht des Mindestlohngesetzes. Wir warnen davor, klassische Einarbeitungsphasen im Rahmen normaler Probezeiten zu monatelangen „betrieblichen Qualifizierungsphasen“ und Beschäftigte zu Pflichtpraktikanten umzudeklarieren.

Die Einfallstore zur Umgehung des Mindestlohns werden nicht mehr kontrollierbar


Der DGB hat die Ausnahmen im Mindestlohngesetz – etwa zu bestimmten Praktikantengruppen – von Anfang an kritisiert. Schlimm genug, dass manche Unternehmen hier eine Chance sehen, gerade Geflüchtete, die sich mit ihren Rechten noch nicht auskennen, als billige Arbeitskräfte zu beschäftigen. Nun darf nicht auch noch der Staat mit kruden Gesetzesauslegungen „Lösungen“ ermöglichen, um sogar Geflüchtete mit Ausbildung vom Mindestlohn auszunehmen. Eine solche Auslegung widerspricht dem Zweck des Mindestlohngesetzes. Sie führt dazu, dass die Einfallstore zur Umgehung des Mindestlohns größer werden und nicht mehr kontrollierbar sind.

Der Arbeitsmarkt, insbesondere im Niedriglohnbereich, muss allen Beschäftigten Schutz bieten – einheimischen wie eingewanderten. Alles andere würde bedeuten, Öl ins Feuer der Rechtspopulisten zu gießen.

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Stefan Körzell
© DGB
Stefan Körzell

Mitglied geschäftsf. Bundesvorstand, Deutscher Gewerkschaftsbund

Stefan Körzell (Jg. 1963) kämpfte bereits als Jugendvertreter der IG Metall dafür, dass alle Auszubildenden seines Ausbildungsbetriebs übernommen werden – erfolgreich. Auch bei der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche war der ausgebildete Maschinenschlosser an der Streikleitung beteiligt. Nach verschiedenen organisatorischen Tätigkeiten im Deutschen Gewerkschaftsbund wurde Körzell 2002 zum Bezirksvorsitzenden Hessen-Thüringen gewählt. Seit 2014 ist er zudem Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstands.

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