Unter 8,84 Euro – Dürfen Geflüchtete zu Billiglöhnern werden?

Die Bundesregierung erwägt Abweichungen vom Mindestlohn für Geflüchtete, die sich nachqualifizieren müssen. Kritiker geben zu bedenken, dass von dieser Regelung nur einer profitiert: der Unternehmer.

Ausnahme vom Mindestlohn? Ein wichtiges Fortschrittchen!

Nicola Beer

Generalsekretärin, FDP

Nicola Beer
  • Der Mindestlohn erschwert Geflüchteten den Zugang zum Arbeitsmarkt
  • Derzeit sind Zuwanderer auf das Engagement vieler Unternehmer angewiesen
  • Es ist notwendig, dass die Politik diesen Unternehmen entgegenkommt

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Kaum hat man in der Bundesregierung anderthalb Jahre nachgedacht, überlegt man auch schon, den Mindestlohn in Ausnahmefällen auszusetzen: nämlich dann, wenn sich Geflüchtete und Zuwanderer für die Anerkennung ihres ausländischen Berufsabschlusses in Deutschland nachqualifizieren müssen. Gute Nachrichten nicht nur für Unternehmen, sondern für all jene, die noch praktische Kenntnisse in einem Betrieb nachweisen müssen, damit ihr Abschluss in Deutschland als gleichwertig gilt. Glückwunsch an die zuständigen Ministerien – das wäre endlich mal ein Fortschrittchen. Mehr aber auch nicht. Wieso soll die Aussetzung des Mindestlohns nur für Qualifizierungspraktika gelten? Es gibt unzählige Geflüchtete, bei denen es nicht um die Anerkennung von Abschlüssen geht, sondern darum, überhaupt die Chance zu haben, je in Arbeit zu kommen. Für diese Menschen stellt der Mindestlohn eine nahezu unüberwindbare Hürde dar. Sie verhindert nicht nur den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern erschwert die Integration maßgeblich. Schließlich sind Arbeitskollegen die besten Integrationshelfer, die es gibt.

Ausnahmen vom Mindestlohn müssen ausgedehnt werden

Befürworter des Mindestlohns – allen voran die Gewerkschaften – betätigen sich natürlich wieder als Kassandra-Rufer. Schon jetzt würden Geflüchtete als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, es sei zu befürchten, dass normale Einarbeitungsphasen zu „monatelangen Qualifizierungsmaßnahmen ausgedehnt und die Beschäftigten zu Pflichtpraktikanten umdeklariert werden“. Weiter entfernt von der Realität kann man eigentlich gar nicht sein. Umgekehrt wird doch ein Schuh draus: Das Gros der Geflüchteten ist derzeit vom persönlichen Engagement der meist mittelständischen Unternehmer abhängig, die aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung heraus Bildungsmaßnahmen für Zuwanderer und Flüchtlinge organisieren und finanzieren. Es ist bei Weitem nicht so, dass es in der Regel mit einer Einarbeitungsphase getan ist, und schon können die Geflüchteten eingesetzt werden wie andere Lehrlinge oder Arbeiter.

Orientierungspraktika sind für Asylbewerber unendlich wichtig, bedeuten für die Unternehmen jedoch zunächst nur Arbeit und Kosten. Wer sich die Mühe macht, die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zu erkunden, der erfährt, dass nach wie vor mangelnde Deutschkenntnisse große Probleme bereiten. Viele Unternehmen investieren daher in Nachhilfeunterricht, damit Geflüchtete und Zuwanderer überhaupt eine Chance haben, angelernt zu werden oder eine echte Ausbildung machen zu können. Sie übernehmen damit Aufgaben, die eigentlich der Staat leisten müsste. Eine zwölfmonatige Befreiung vom Mindestlohn auch für Flüchtlinge, die in ihren Heimatländern keine Ausbildung absolviert haben, wäre nicht nur für die Betroffenen eine wichtige Chance. Es wäre auch ein notwendiges Entgegenkommen für die Unternehmen, die viel Zeit und Geld investieren, um einen essenziellen Beitrag zur Integration und damit für unsere Gesellschaft zu leisten. Die Politik braucht wieder mehr gesunden Menschenverstand, weniger Ideologie.

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Nicola Beer
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Nicola Beer

Generalsekretärin, FDP

Nicola Beer (Jg. 1970), Mutter von zwei Söhnen, Bankkauffrau und Rechtsanwältin, ist seit 2013 Generalsekretärin der FDP. 1999 wurde sie zum ersten Mal in den Hessischen Landtag gewählt, dem sie, unterbrochen von 2009 bis 2014 durch ihre Ernennung zur hessischen Europa-Staatssekretärin, bis heute angehört. Regierungserfahrung sammelte sie auch als hessische Kultusministerin. Sie engagiert sich vor allem in der Europa-, Justiz-, Kultur- und Bildungspolitik, sowie beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

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