Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Wer stört, muss gehen

Bild: 123rf.com

Arbeitgeber suchen kreative Querdenker, doch wer zu stark gegen den Strom schwimmt, der bekommt es mit Chef und Kollegen zu tun. Warum "Wer stört, muss gehen" in unserer Arbeitswelt keinen Platz mehr hat. 

Seit Tagen schwirrt mir eine Überschrift im Kopf herum: „Querdenker, mach Dein Ding!“. Weil ich Unternehmen von innen sehe, die vor lauter Risikoaversion und Schwur auf Best Practice an ihren Regeln verstaubter Unternehmensführung langsam, aber sicher selbst ersticken. Weil ich im Coaching täglich mit Angestellten arbeite, die vor großartigen Ideen nur so sprudeln, jedoch von Angst getriebenen Chefs oder auf Harmonie getrimmten Kollegen Denkverbote auferlegt bekommen. Und weil ich das bunte Gerede von Diversity, New Work und Arbeiten 4.0 nicht mehr hören kann, solange sich in Chef-Etagen falsches Spiel, Machtgehabe sowie patriarchalisches von oben herab Regieren von Generation zu Generation Gleichgesinnter vererben.

Sie werden mir vermutlich zustimmen, dass mehr Querdenker und gegen den Strom Schwimmer vielen Unternehmen hierzulande einen ordentlichen Schub an Innovation und Wettbewerbsfähigkeit bescheren würden. Doch ich habe mich entschieden, diesen positiven Appell an Arbeitnehmer für mehr mutiges Querdenkertum hier und heute nicht mit gutem Gewissen auszusprechen. Denn ich sehe, was mit kritischen Andersdenkern, visionären Innovationstreibern, kreativen Machern und friedlichen Störenfrieden in viel zu vielen Organisationen immer noch geschieht: 

Sie werden mit System mundtot gemacht, hinterrücks aus Meetings ausgeladen, ihr Verantwortungsbereich wird häppchenweise beschnitten und bei nächstbester Gelegenheit erhalten sie die befreiende Chance, sich selbst mit großzügiger Abfindung an die frische Luft zu befördern. Warum sollte ich Sie ermutigen, sich das anzutun?

Querdenker ja gerne, Veränderung nein danke

Wer glaubt, dies sei eine Frage von Unternehmensform, Position, Hierarchie, Alter oder gar Geschlecht, der irrt. Der Sachbearbeiter in der Buchhaltung des kleinen Familienbetriebes, der nach 20 Jahren Formulare ausfüllen die Reisekostenabrechnung digitalisieren möchte, der macht sich genauso unbeliebt, wie die junge Teamleiterin im DAX-Konzern, die sich mit ihren Mitarbeitern ohne auszustempeln wöchentlich gegenüber auf der grünen Wiese zum „Design Thinking Meet-Up“ trifft oder der Vorstand, der seinen Aufsichtsrat mit strategischen Visionen in Panik versetzt, während das nächste Quartalsziel die gelb-rote Ampel zeigt.

Ja klar, wie immer gibt es Ausnahmen und so sicherlich auch in manchen Unternehmen solche Inseln der Glückseligkeit, auf denen Querdenkertum nicht nur geduldet, sondern höchst erwünscht ist. Mit Sicherheit noch in vielen der trendigen Start-Ups in Berlin oder Hamburg, doch bereits in den agilen Hubs und Digitalablegern deutscher Großkonzerne nur noch an der langen Leine. Die echten Spielwiesen für Querdenker sind in meiner Wahrnehmung noch mehr die absolute Ausnahme als in der Breite gelebte Realität - sogar Tendenz abnehmend, je dynamischer und komplexer unsere Arbeitswelt wird. So kommt es mir jedenfalls vor. 

Oder wie ist das bei Ihnen? Hat Ihr Chef die Zeit und Lust, in Ruhe mit Ihnen über kreative Ideen außerhalb des Tagesgeschäftes zu sprechen? Sind Ihre Kolleginnen und Kollegen an Ihren Gedanken interessiert und hören Ihnen zu? Oder gibt es auch bei Ihnen diese anonyme E-Mail-Adresse in der HR-Abteilung, an die Sie Verbesserungsvorschläge schicken können und – wenn das Los auf Sie fällt, Ihnen am Ende des Jahres eine Auszeichnung blüht? Mal angenommen, Sie wären ein Querdenker – fühlen Sie sich als solcher bei Ihrem Arbeitgeber willkommen und wirklich ernst genommen?

Womöglich ist mein Blick auch zu negativ verzerrt, weil ich im Coaching naturgemäß auf solche Menschen als Querdenker treffe, die heftig angeeckt sind, mies gemobbt werden oder schon die Kündigung in der Tasche haben. Wenn Ihre Wahrnehmung, liebe Leserinnen und Leser, eine andere ist, dann beteiligen Sie sich gerne hier an der Diskussion und belehren mich eines Besseren.

Störung führt zu Bestrafung, Anpassung zu Belohnung

Wer sich anpasst und die Regeln befolgt, der überlebt. Willkommen in der Steinzeit! Aber ja, dies ist eine in unseren Köpfen noch tief verankerte Überlebensstrategie, die uns von Kindesbeinen an prägt und zudem gesellschaftlich weiterhin höchst konsensfähig ist. Wir lernen früh, dass Störung Bestrafung und Anpassung Belohnung zur Folge haben. Der verhaltensauffällige Schüler erfährt die sanktionierende Sonderbehandlung, nicht der angepasste Mitläufer. Wer nicht ist, wie die Masse, wird ausgegrenzt, übersehen oder nicht gehört. Zu klug, zu langsam, zu laut, zu zurückhaltend, zu unruhig, zu kritisch, zu fordernd. Einfach lästig. 

Ich bin der Meinung, wir können es uns als moderne Gesellschaft und in der Folge auch in einer Arbeitswelt 4.0 nicht mehr leisten, angepasstes Mittelmaß als bescheidene Durchschnittlichkeit zu fördern. Der leise, zurückhaltend Beobachtende hat die gleiche Aufmerksamkeit verdient, wie der lebhaft Laute. Introvertierte Menschen verfügen genauso über besondere Stärken und Talente, wie anders auch Extrovertierte. Der Optimist braucht den Bedenkenträger genauso in manchen Situationen, wie der Futurist den Realisten. Echte Diversity ist mehr als Frauenquote und LGBTI-Toleranz. Sie ist auch und vor allem Offenheit gegenüber und echtes Interesse an anderen Sichtweisen und Meinungen. „Wer stört, muss gehen“ passt nicht mehr in unsere Zeit.

Störungen sind Signale von Menschen, die etwas zu sagen haben.

Störungen haben Vorrang. Diese Maxime gilt in allen meinen Coachings und Workshops. Arbeite ich mit Gruppen, fordere ich die Teilnehmer zu Beginn dazu auf, an- und auszusprechen, wenn sie sich unwohl fühlen, keine Lust auf etwas haben oder sie glauben, dass ein anderes Vorgehen oder Thema sinnvoller sind. Selbstverantwortung ist mir wichtig und so ist jeder selbst dafür verantwortlich, dass es ihr oder ihm gut geht. Sie glauben gar nicht, wie viel Leichtigkeit es in die gemeinsame Arbeit bringt und welchen Effekt diese Kultur auf ein wertschätzendes Miteinander sowie auf die Veränderungsprozesse selbst hat.

Ich bin davon überzeugt, dass Störungen als positiv wertgeschätzte Signale von Menschen in jeglichem Kontext für sie selbst und ihr Umfeld von hohem Wert sind. Ja, es ist gefühlt kuscheliger unter der „Wir haben uns alle lieb“-Decke, doch diese Kultur ist auch der beste Nährboden für unausgesprochene Konflikte in Teams, Missverständnisse zwischen Kollegen sowie chronische „Bauchschmerzen“ von vielen Arbeitnehmern morgens auf ihrem Weg in den Job. Vor allem ist sie jedoch Garant für Stillstand oder – wenn es denn sein muss – Veränderung mit der Brechstange.

Der Begriff „Störung“ ist in unserem Sprachgebrauch vor allem negativ belegt. Logisch, dass die Störung im Atomkraftwerk oder die des Bordcomputers im Flugzeug lebensbedrohliche Folgen haben kann - das meine ich nicht. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass wir im Alltag beobachtete Emotionen, Reaktionen oder Sichtweisen von Menschen in unserem Umfeld zu häufig als unliebsame Störungen bewerten, die es Wert wären, stattdessen wertgeschätzt zu werden. 

Weil sie uns aus gewohnten Denkroutinen führen und wach im Kopf machen. Weil sie uns daran erinnern, dass die Welt nur das ist, wofür wir sie halten. Und weil es schlichtweg wertschätzend ist, als Mensch mit seiner Meinung von anderen Menschen gehört zu werden. Störungen sind Signale von Menschen, die etwas zu sagen haben. Wir sollten ihnen den Raum hierfür geben und uns für ihre anderen und vielleicht auch ungewohnten Sichtweisen und Meinungen interessieren. 

Ich könnte Ihnen in Tschakka-Guru-Manier „Querdenker, mach Dein Ding!“ zurufen. Doch ich habe das Gefühl, dass dieser Appell für viele mutige Querdenker noch zum Scheitern verurteilt ist, solange wir Arbeitsumgebungen pflegen, in denen Andersdenkende als Störer empfunden und sie Angst getrieben mundtot gemacht oder klein gehalten werden. Wir müssen begreifen und in der Breite positiv erfahren, dass Vielfalt von Sichtweisen und damit auch Raum für Querdenker in allen Arbeits- und Lebensbereichen etwas Positives und höchst Bereicherndes ist. Für jeden Einzelnen von uns, für Teams, Arbeitgeber und Organisationen sowie für uns als Gesellschaft. 

Wer etwas zu sagen hat, ist willkommen

Diese Kultur ist es, die Arbeitgeber kommunizieren und etablieren sollten, die auf Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation setzen und echte Vielfalt leben möchten. Bis diese Kultur nicht nur bunt schillernde Fassade, sondern im täglichen Miteinander erlebbar ist, ist es für die Mehrzahl der Arbeitgeber und ebenso für viele Angestellte in meiner Wahrnehmung noch ein weiter Weg. Zu tief ist verankert, dass gefährlich ist, was anders ist. Kulturwandel in Organisationen und Veränderung von Verhalten dürfen dauern. Doch wir sollten beginnen, den Weg bewusst zu gehen. Vielleicht freuen ja auch Sie sich bereits über die nächste "Störung" als Bereicherung ...  

Was sind Ihre Erfahrungen mit Querdenkern? Stören sie oder sind sie eine gute Bereicherung? Mich interessiert Ihre Meinung - auch wenn sie anders ist ;-) 

Ihr & Euer

www.bernd-slaghuis.de

____________________

Weitere Beitiräge zum Thema:

Wer schreibt hier?

Dr. Bernd Slaghuis
Dr. Bernd Slaghuis

Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
Mehr anzeigen