Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

for Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Tagesgeschäft frisst Wertschätzung

Bild: 123rf.com

Viele Angestellte klagen heute über mangelnde Wertschätzung. Warum der Mensch in der Routine des schnellen Tagesgeschäfts immer mehr auf der Strecke bleibt und was Wertschätzung wirklich wertvoll macht.

„Nicht geschimpft ist Lob genug“, sagt Thomas beiläufig, als er von seinem Chef erzählt. Mit dem Ausdruck einer Normalität, die mich ihn fragend anblicken lässt. So sei es heute doch überall, setzt er nach. Für Wertschätzung bleibe im Tagesgeschäft keine Zeit mehr. Eine aus gewohntem Frust über fehlende Anerkennung gefestigte Meinung, die für ihn längst zum Glaubenssatz geworden ist. 

Am gleichen Tag sitzt mir Simone im Coaching gegenüber. Sie ist eine Macherin und möchte viel bewegen. „Sie sollen arbeiten, nicht denken!“ habe sie von ihrer Vorgesetzten genervt zu hören bekommen, als sie einen Verbesserungsvorschlag einreichen wollte. Seitdem sei die Luft raus, sie leiste Dienst nach Vorschrift und kann nicht begreifen, warum ihr Engagement nicht wertgeschätzt wird.

Thomas und Simone sind keine Einzelfälle. Vielen Angestellten sind Wertschätzung und Anerkennung im Beruf extrem wichtig. Denn sie macht Arbeit positiv erlebbar und schenkt ihr den Sinn, nach dem wir uns besonders mit zunehmender Verschmelzung von Arbeits- und Lebensbereich sehnen.

Wenn Tagesgeschäft Routine ist

Wo sie fehlt, wird aus erfüllender Arbeit emotionslos stumpfes Abarbeiten mit Menschen, die zu funktionieren haben, wie Maschinen – tagein, tagaus. Wo das schnelle Ergebnis am Ende des Tages mehr zählt als nachhaltiger Erfolg. Wo mit hektischem Aktionismus die Probleme von gestern gekittet werden, statt gemeinsam Lösungen für die Zukunft zu gestalten. Wo sich Manager „Digitalisierung“ auf die Agenda schreiben und im Monatsrhythmus frische Projekte in die Organisation pressen, die für Führungskräfte und ihre Mannschaft an der Basis zur täglichen Zerreißprobe im operativen Geschäft werden.

Dort, wo im Tagesgeschäft keine Zeit für Wertschätzung bleibt, beginnt ein für jede Organisation gefährlicher Teufelskreis. Wenn menschliche Arbeitsleistung im Alltag Normalität aus Routine und wortwörtlich keiner Rede mehr wert ist, werden Frustration, Fehlzeiten und Fluktuation das Tagesgeschäft umso stärker belasten.

Wertschätzung ist mehr als Lob und Geld

Frage ich meine Klienten, was Wertschätzung für sie persönlich bedeutet, so geht es ihnen nie um den lobenden Schulterklopfer des Chefs zum Feierabend, nicht um kostenlos frisches Obst oder großzügige Geschenke zur mobilen Erreichbarkeit und erst recht nicht um die formal gute Bewertung inklusive Bonus zum Jahresende.

Sie wünschen sich, als Mensch mit ihrer Arbeitsleistung im Alltag wahr- und ernst genommen zu werden. Sie möchten gesehen, gehört, gefragt sowie über Entwicklungen informiert werden. Sie möchten unmittelbar und individuell spüren, gebraucht zu werden und einen Beitrag zu leisten. Als wertvoller Teil eines Teams mit gemeinsamen Zielen statt als unbedeutendes Zahnrädchen im Wettrennen ums Überleben im Tagesgeschäft. Sie wünschen sich Chefs, die ihnen als Mensch auf Augenhöhe begegnen, Halt geben und Richtung weisen sowie Freiheiten gewähren, wie sie für jeden individuell wichtig sind.

Menschen arbeiten mit Menschen. Die Digitalisierung wird diesen wenngleich geringer werdenden Anteil von Arbeit in den kommenden Jahren zwischenmenschlich weiter um ein Vielfaches intensivieren. „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“ darf nicht nur Lockruf auf Karriereseiten sein, sondern muss als Haltung in die Köpfe einziehen. Denn Wertschätzung ist weder täglich abzuhakendes To-do, noch antrainierte Methode, sondern aus innerer Haltung gespeistes und im Außen erlebbares Verhalten als Mensch mit echtem Interesse anderen Menschen gegenüber.

Wertschätzung bedeutet Werte schätzen

Unsere Werte sind der Motor für Motivation. Alles das, was wirklich wichtig ist, damit wir im Beruf leistungsfähig sind und gesund bleiben: Freiheit und Flexibilität, Sinn und Identifikation, Abwechslung und Herausforderung, Kollegialität und Zugehörigkeit, Sicherheit und Nachhaltigkeit, Geld und Erfolg, Status und Anerkennung, Freude und Leidenschaft. Wertschätzung ist das Bewusstsein, zu erkennen und zu respektieren, dass jedem Menschen andere Werte wichtig sind.

Frage ich Führungskräfte, ob sie wissen, was ihren Mitarbeitern bei ihrer Arbeit wichtig ist, erfahre ich häufig ratloses Kopfschütteln. „Dafür habe ich in meinem Job keine Zeit, Arbeit ist ja kein Wunschkonzert!“, entgegnete mir kürzlich ein Bereichsleiter. Eine Auffassung von Führung und Zusammenarbeit, die keine Zukunft haben wird. Denn je breiter der Graben zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern im oberflächlichen Nebeneinander des Tagesgeschäfts wird, umso ungenauer wird Delegation und umso ungesünder wird Führung.

Wertschätzung muss Tagesgeschäft werden

Wertschätzung ist eine Investition. Sie lässt sich jedoch nicht kaufen, wie es mancher Manager gewohnt ist. Sie ist Zeit für ein „Wie geht es Ihnen?“ mit echtem Interesse, Zeit für aufmerksames Zuhören, fokussiertes Hinsehen und empathisches Fragen und Verstehen. Führung ist das Management guter Beziehungen, Wertschätzung ist die tägliche Arbeit daran. Nicht die Bewältigung des Tagesgeschäfts macht Führung erfolgreich, sondern Wertschätzung muss wieder zum Tagesgeschäft von Führung werden. 

Dieser Beitrag ist zuerst bei WELT/Bilanz erschienen.

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Alle meine bisherigen Beiträge finden Sie auf meinem Profil als XING Insider. Ich freue mich, wenn Sie mir hier folgen. 

Was sind Ihre Erfahrungen und Meinungen als Angestellte/r oder als Führungskraft zum Thema Wertschätzung im schnellen Tagesgeschäft? 

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Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

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Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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