Wie der deutschen Kultmarke Leica das digitale Comeback gelang
Der Kamerahersteller Leica aus Wetzlar ist eine der ikonischen deutschen Technologie-Marken. Ihr Comeback in letzten Jahren ist ein Paradebeispiel dafür, wie Marken die digitale Transformation bewältigen können.
Technologische Transformation – das ist ein Thema, mit dem sich deutsche Unternehmen mittlerweile sichtlich schwertun. Selbst globale Großkonzerne entwickeln vielleicht global wettbewerbsfähige Spitzentechnologie, scheuen dann aber die nötigen Investitionen oder zögern aus Angst, die bestehenden Geschäftsmodelle zu gefährden. Es fehlt die visionäre Kraft eines Steve Jobs, der grundsätzlich nicht nach isolierten Technologien, sondern nach holistischen Ökosystemen mit neuen Wertschöpfungsmöglichkeiten suchte.

In New York testete Firmenchef Ernst Leitz II. persönlich das Potenzial der Kleinbildkamera
Dass solche Momente auch in Deutschland durchaus möglich sind, zeigt ein 100-Jahre-Jubiläum, das der Kamera-Hersteller Leica in diesem Jahr feiert. Denn 1925 ging im idyllischen Wetzlar mit der Leica I die erste Kleinkamera der Welt in Serienproduktion. So schlicht dieses Datum heute klingt, so dramatisch waren damals die Konsequenzen für die mediale Visualisierung der Welt.
Wie Leicas Kleinkamera die Fotografie revolutionierte
Die damaligen Rahmenbedingungen dürften den heutigen Wirtschaftslenkern nicht ganz unbekannt vorkommen: Deutschland hatte den Weltkrieg verloren und war wirtschaftlich angeschlagen. Internationale Verkaufsnetze waren zusammengebrochen und mussten neu aufgebaut werden. Im Heimatmarkt selbst war die Konsumlaune angesichts einer instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage ebenfalls gering. Leica brauchte – wie viele andere deutschen Unternehmen – dringend neue Erlösquellen.
Der entscheidende Wendepunkt kam, als der damalige Firmenchef Ernst Leitz II. vor einer entscheidenden Frage stand. Sein Mitarbeiter Oscar Barnack hatte eine radikal neu konzipierte Kleinkamera entwickelt. Statt der klassischen Glasplatten verwendete die Leica-0-Prototypen die Zelluloid-Filme, die bisher nur für Filmproduktionen verwendet wurden. Bei einem geschäftlichen Aufenthalt in New York hatte Leitz persönlich getestet, wie radikal sich die Kameranutzung dadurch veränderte, erklärt Andrea Pacella, Vice President Global Marketing & Communication der Leica Camera AG: "Bis zu diesem Moment waren Kameras einfach zu schwer, um sie in Alltagsmomenten dabei zu haben und Erinnerungsbilder zu schießen. Leitz verstand, dass die neue Kamera nicht nur die Fotografie, sondern auch das Alltagsleben grundsätzlich verändern würde. Denn jetzt waren auch Bilder möglich, die man nicht wie Porträtaufnahmen aufwendig inszenierte."
Als Vice President Global Marketing ist meine Rolle, der Wächter dieser Marke zu sein, die ihre historischen Markenwerte mit ihren zukünftigen digitalen Möglichkeiten vereinen muss. Wir müssen gleichzeitig stolz auf unsere Vergangenheit und neugierig auf unsere Zukunft sein.Andrea Pacella, Leica
Allerdings barg die Serienproduktion einer Kleinbildkamera auch viele wirtschaftliche Risiken. Leica würde nicht nur die Geräte, sondern auch eine völlig neue Filmkategorie für die Bildaufnahme vermarkten müssen. Und niemand konnte sicher sein, ob eine Kamera mit Kleinbildformat in wirtschaftlich unsicheren Zeiten überhaupt auf ein Kundeninteresse stoßen würde. Viele Führungskräfte und Ingenieure standen der Serienproduktion skeptisch gegenüber. Leitz war das egal. Mit dem mittlerweile legendären Satz "Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert." gab er den Startschuss für die Produktion.
Leicas Krise bei der Digitalisierung der Fotografie
Knapp 75 Jahre später hätte fehlender Mut fast zum Ende des Unternehmens geführt. Leica hatte bei der Digitalisierung der Fotografie trotz eigener Prototypen zu spät reagiert. Die asiatische Konkurrenz dominierte mittlerweile den Markt und für Leica schien das Aus nur noch eine Frage der Zeit.
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Die Wende kommt 2004 mit dem neuen Eigentümer Andreas Kaufmann, der nicht nur dringend benötigtes frisches Geld, sondern auch frische Ideen in das Unternehmen bringt. Leica besticht nicht nur wieder durch überzeugende Produkte, sondern besinnt sich auf alte Markenwerte. 2019 kehrt das Unternehmen in seine alte Heimatstadt Wetzlar zurück und eröffnet mit dem Leitz-Park einen Markentempel, der mittlerweile für Leica-Fans weltweit zum Pilgerort geworden ist.
Leica schafft Erlebniswelten für Markenfans
Promi-Fans wie Jason Momoa oder Brooklyn Beckham können den Markenmythos hier genauso erleben wie normale Kamerabesitzer, die hier in die Geschichte der Marke eintauchen oder ihre eigene fotografische Expertise verbessern wollen. Pacella: "Wir veranstalten hier zum Beispiel Workshops zu den Grundlagen der Fotografie, wo man sogar mit seinem Smartphone teilnehmen kann. Denn wer einmal dieses kleine Einmaleins der Kameras gelernt hat, bekommt dadurch auch ein tieferes Verständnis für die Schönheit und den Wert der Fotografie."

In seiner Markenkampagne zum Jubiläum feiert Leica die Fotografen als Zeitzeugen
Dieser Anspruch zieht sich wie ein roter Faden durch den Auftritt der Marke: Leica wirbt nicht nur für das eigene Produkt, die Marke versteht sich selbst als Botschafter für die Fotografie als Medium. Sei es über die eigenen Leica-Galerien, sei es über den eigenen Fotografiewettbewerb, ja selbst Leicas Markenkampagne "The World deserves witnesses" spricht mehr über den Wert der Fotografie als über die Marke selbst.
Für Pacella nur konsequent: "Bei der Eröffnung des Leitz-Parks hat Dr. Kaufmann gesagt: ,Es geht nicht um das Instrument, es geht um die Fotografie’. Wir sind inklusiv und wollen alle Menschen erreichen, die Fotografie lieben – unabhängig von dem Gerät, das sie benutzen. Aber gleichzeitig werden wir auch als sehr exklusive Marke wahrgenommen, weil wir uns so stark und mit so viel Leidenschaft auf das Thema Fotografie konzentrieren."
Gerade im Zeitalter der Digitalisierung ist für die Marke Leica das persönliche Erlebnis eines der wichtigsten Marketinginstrumente. Pacella: "Ein Unternehmen wie das unsere braucht eigene Orte wie die Leica Stores, um den Menschen ein volles Verständnis und Erlebnis rund um die Fotografie zu vermitteln und so eine Community rund um die Marke aufzubauen. Diese physisch erlebbaren Momente rund um unsere Leidenschaft für die Fotografie machen den entscheidenden Unterschied in den Augen der Fans." Leica arbeitet zwar nach wie vor intensiv mit dem Fotografie-Fachhandel zusammen, hat aber gleichzeitig auch eine weltweite Kette von eigenen Geschäften sowie insgesamt weltweit 22 Leica-Galerien gegründet, um das Markenerlebnis besonders immersiv vermitteln zu können.
Im Mittelpunkt dieses Markenerlebnisses stehen die Fotografen selbst, die in der Leica-Markenwelt die Rolle des Zeugen der Weltereignisse bekommen. Das ist durchaus von der Unternehmensgeschichte gedeckt: Viele weltberühmten Fotos, beispielsweise das Porträt von Che Guevara, wurden mit einer Leica-Kamera geschossen.

Das Che Guervara-Porträt von Alberto Korda ist nur eines von viele weltberühmten Motiven, die mit einer Leica geschossen wurden
Es ist ein Titel, der in der Ära der generativen KI noch einmal deutlich an Brisanz gewonnen hat, findet Pacella: "Heute kann grundsätzlich jeder Mensch mit KI jede Art von Bild erschaffen. Aber es ist einfach ein Unterschied, wenn man wirklich vor Ort ist, die Atmosphäre seiner Umgebung atmet und einen besonderen und einmaligen Moment einfängt, den es in dieser Besonderheit vielleicht nur einmal geben wird. KI kann die Fotografie in vielen Aspekten unterstützen und erleichtern, aber sie wird Fotografie nie ersetzen."
Warum für Leica Fotografen die Zeugen der Welt sind
Den Unterschied zwischen KI-generierten Bildern und echter Fotografie will Leica mit einem hauseigenen digitalen Produkt unterstützen. Leica stattet seine Kameras mit einem Verifizierungssystem, den sogenannten Content Credentials, aus, das es erlaubt, die Authentizität eines Bildes nachzuvollziehen. Die großen Kamerahersteller haben mittlerweile nachgezogen. Pacella ist überzeugt: "Es gibt einen konkreten Bedarf bei digitalen Bildern, wenigstens grundsätzlich den Wahrheitsgehalt eines Motivs nachvollziehen zu können. Mit Content Credentials machen wir Fälschungen deutlich schwerer."
Diese einzigartige Positionierung zwischen analoger Tradition und digitaler Expertise liefert Leica seit einigen Jahren auch die Basis für einen Balanceakt, der in der klassischen Kamerabranche wohl einmalig ist. Zunächst mit Huawei und dann ab 2022 exklusiv mit Xiaomi, ist Leica die offizielle Ingredient Brand, mit der der chinesische Smartphone-Hersteller die Qualität seiner Kameratechnik profiliert.

Mit dem Leitz-Phone Modell testet Leica derzeit in Japan das Potenzial für eigene Smartphones
Für Leicas Top-Marketer Pacella kannibalisiert diese Partnerschaft nicht den Markt für klassische Fotokameras: "Wir sind wahrscheinlich das erste Unternehmen der Fotografie-Branche, das verstanden hat, dass man die Smartphones nicht bekämpfen sollte. Das wäre auch sinnlos. Statt sie zu bekämpfen, versuchen wir lieber über unsere Partnerschaft Smartphone-Fotografie zu verbessern und neue Kundengruppe anzusprechen."
Wie Smartfone-Fotografie zur Marke Leica passt
Die beiden Gerätekategorien bilden für Pacella unterschiedliche Nutzungssituationen ab: "Das Smartphone hat man praktisch immer bei sich und kann spontan reagieren, wenn man etwas sieht, das man festhalten will. Wenn man eine Fotokamera bei sich hat, sucht man bewusst nach Bildmotiven, weil man Motive finden will, um visuell einen konkreten Moment zu erzählen, den man für bedeutungsvoll hält. Man hat schon die Idee für das Bild, bevor man es fotografiert. Das sind zwei sehr unterschiedliche Nutzungssituationen. Deshalb ist die beste Kamera im Zweifel immer genau diejenige, die man dabeihat, wenn man sie gerade braucht."
Bei aller Toleranz für die digitalen jungen Wilden ist das Leica-Produktentwickler-Team aber offensichtlich überzeugt, dass in der Smartphone-Fotografie durchaus noch Luft nach oben ist. In Japan hat Leica mittlerweile mit dem Leitz Phone 3 schon die dritte Generation eines selbst entwickelten Smartphones mit besonders guten fotografischen Möglichkeiten auf den Markt gebracht.
Gerüchteweise sollte 2025 auch in Europa das Leica Phone starten – passend zum Jubiläum der Kleinbildkamera hätte die Serienproduktion des digitalen Enkels der historischen Kleinbildkamera begonnen. Das hat nicht geklappt, doch Leica zeigt mit eigenen Fotografie-Apps, dass es die digitale Fotografie keineswegs langfristig exklusiv den Smartphone-Herstellern überlassen will. Die Vision: Der typische Leica-Look in der Fotografie soll unabhängig vom verwendeten Gerät jederzeit zur Verfügung stehen.
Wie Leica seine deutschen Wurzeln zur Basis seiner Marke macht
Für das Unternehmen ist das nur eine Baustelle, die langfristig zum Wachstum beitragen soll. So nutzte Leica seine Optikexpertise auch für einen innovativen TV-Projektor, den das Unternehmen mittlerweile für Highend-Kunden anbietet. Um hier auch in Zukunft die nötigen Verkaufspreise aufrufen zu können, vertraut Pacella auf die Zugkraft von "Made in Germany": "Das ist für uns die Basis. Für unser Marketing-Team ist ganz klar, dass die Deutschheit die Seele unserer Marke bleiben muss. Dabei geht es nicht darum, dass jedes einzelne Teil unserer Produkte in Deutschland hergestellt sein muss. Es ist eher die philosophische Haltung, wie wir an die Qualität unserer Produkte herangehen. Das unterscheidet uns am Ende von unseren Wettbewerbern."
Es ist diese besondere Mischung aus alten Werten und neuen Strategien für die digitale Medienwelt, die das Profil der Marke Leica aktuell so bemerkenswert macht. Pacella ist sich dieser besonderen Herausforderung bewusst: "Als Vice President Global Marketing ist meine Rolle, der Wächter dieser Marke zu sein, die ihre historischen Markenwerte mit ihren zukünftigen digitalen Möglichkeiten vereinen muss. Wir müssen gleichzeitig stolz auf unsere Vergangenheit und neugierig auf unsere Zukunft sein."
