Deutschlands bekannteste KI-Firma: Große Zäsur bei Aleph Alpha
Nach dem CEO-Wechsel im August sollen zahlreiche Führungskräfte und Mitarbeitende gehen. Dabei deutet sich eine strategische Neuausrichtung an.
Düsseldorf, Stuttgart. Deutschlands bekanntestem KI-Start-up Aleph Alpha stehen harte Einschnitte bevor. Die neue Unternehmensspitze um CEO Reto Spörri und den für Wachstum verantwortlichen Manager Ilhan Scheer baut das KI-Unternehmen nach Handelsblatt-Informationen radikal um.
Zu ihrer Strategie haben sich Spörri und Scheer bislang nicht offiziell geäußert, Interviewanfragen lehnte das Unternehmen mehrfach ab. Doch das Handelsblatt konnte mit rund einem Dutzend Insidern sprechen. Aus ihren Schilderungen ergibt sich das Bild eines Unternehmens, das vor einem massiven Umbau steht.
Allein aus den Führungsebenen liegen dem Handelsblatt die Namen von zehn Personen vor, die das Unternehmen verlassen sollen. Viele von ihnen haben laut Insidern ihre Kündigung erhalten, einige gehen von selbst.
Auch auf anderen Ebenen haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Aleph Alpha verlassen. Insgesamt sollen laut Insidern in den vergangenen Wochen mehr als drei Dutzend Personen ihren Abschied verkündet haben – rund zehn Prozent der gesamten Belegschaft. Der Prozess scheint noch nicht abgeschlossen.
Einerseits trennt sich das neue Führungsteam offenbar von Personen, mit denen es nicht mehr zusammenarbeiten will, wie häufig bei einem Führungswechsel. Andererseits könnten durch eine strategische Neujustierung bestimmte Positionen und Aufgabenfelder künftig komplett wegfallen.
Konfrontiert mit den Rechercheergebnissen des Handelsblatts hat Aleph Alpha knapp Stellung bezogen. „Die Geschäftsführung hat den Auftrag, die Positionierung des Unternehmens zu fokussieren und die Organisation konsequent auf die Kundenstrategie auszurichten“, teilt das Unternehmen mit. „Zu laufenden Strategieprozessen äußern wir uns grundsätzlich erst, wenn sie abgeschlossen sind und umgesetzt werden.“ Personalmaßnahmen werde die Firma nicht kommentieren, heißt es weiter: „Nur so viel: Einige Mitarbeitende haben das Unternehmen verlassen, andere kommen hinzu. Zusätzlich enden zum Jahresende Verträge mit externen Beratern, die zur Entwicklung in einzelnen Projekten unterstützend beauftragt wurden.“
Fest steht: Deutschlands einstiger KI-Hoffnungsträger steht vor einer Zäsur. Und darüber sind sich Kritiker wie Befürworter der jüngsten Entscheidungen einig: Ein Einschnitt ist notwendig – vielleicht sogar die letzte Chance für Aleph Alpha.
Einstiger KI-Hoffnungsträger steht vor einer Zäsur
Dabei schienen die Voraussetzungen im globalen Rennen um die vielleicht wichtigste Zukunftstechnologie zunächst gut. Als der Start des Chatbots ChatGPT den Hype um KI auslöste, galt die Firma um Mitgründer und Ex-CEO Jonas Andrulis als einer der technologischen Vorreiter bei den sogenannten großen Sprachmodellen. Politik und Wirtschaft wollten sich mit der KI-Firma zeigen. Zur Bekanntgabe der letzten Finanzierungsrunde von Aleph Alpha im November 2023 kam der damalige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck persönlich.
Doch trotz der guten Ausgangsposition verlor Aleph Alpha den Anschluss. Erst fehlte Kapital. Dann kamen kommunikative Fehler hinzu, zudem ein schlechtes Partnermanagement und eine unklare Produktstrategie. Und so braucht es aus Sicht des Gesellschafterkreises einen Neuanfang.
Operativ greift vor allem der künftige Co-Chef Scheer durch
Angefangen hatte der Umbau an der Spitze des Unternehmens im Sommer: Da wurde Reto Spörri, bis dato Manager beim Großinvestor Schwarz-Gruppe, als Co-Chef von Mitgründer Jonas Andrulis vorgestellt. Damals hieß es, sie sollten das Unternehmen von August an gemeinsam führen. Schon im Oktober musste Andrulis weichen. Vorgesehen ist, dass der Gründer ab Januar als größter Anteilseigner den Gesellschafter-Beirat des Unternehmens leitet. Ob seine Meinung dort aber wirklich noch gefragt ist, daran wachsen Zweifel.
Im operativen Geschäft soll Andrulis laut Insidern schon jetzt keine Rolle mehr spielen. Von ihm selbst gibt es dazu keine Erklärung: Das Unternehmen lehnte selbst ein kurzes offizielles Statement des Gründers zu seinem Rückzug aus der Führungsspitze ab, eine erneute Anfrage im Zuge dieser Recherche an den Gründer persönlich blieb unbeantwortet. Aus dem Kreis der Investoren und Führungskräfte stellen sich manche die Frage, warum: Ob das neue Management nicht will, dass sich der Gründer zu den Veränderungen äußert? Laut den Insidern habe er sich nichts zuschulden kommen lassen.
Andrulis ist nicht die einzige hochrangige Personalie der vergangenen Monate. Im Oktober wurde Chief Operation Officer Carsten Dirks freigestellt, der erst kurz zuvor beförderte Produktchef Christopher Kränzler zunächst degradiert.
Seither haben nach Handelsblatt-Informationen zahlreiche Mitarbeitende in Vice-President- und Teamleitungsfunktionen von ihren Kündigungen erfahren oder selbst gekündigt – vor allem in den Bereichen Produkt, Partnermanagement und spezielle Industriezweige. Daneben sollen auch Beschäftigte in der Probezeit gehen, heißt es in Unternehmenskreisen.
Laut Angaben im Intranet soll Aleph Alpha derzeit noch etwa 350 Mitarbeitende haben. Dabei werden sowohl Personen mit Zeitarbeitsvertrag mitgezählt als auch die etwa 50 Mitarbeitenden im ausgelagerten Forschungsarm.
Von Aleph Alpha heißt es, die Firma könne die Zahlen zu Abgängen, die dem Handelsblatt vorliegen, nicht bestätigen. Auch intern gab es zum Umfang des bisherigen und womöglich noch geplanten Stellenabbaus nach Handelsblatt-Informationen bisher keine Kommunikation. Doch die Einschnitte seien längst für alle bemerkbar, sagen Insider: „Im Mitarbeitenden-Chat vergeht kein Tag, an dem sich nicht jemand verabschiedet“, berichtet eine Person, die Zugang zur Kollaborationsplattform Mattermost hat. Auch sie bestätigt einen Abbau vor allem im Bereich Produkt und Vertrieb – und erwartet noch weitere Entlassungen.
Im Kreis der Personen, mit denen das Handelsblatt sprechen konnte, gibt es verschiedene Schätzungen, wie viele Personen insgesamt werden gehen müssen oder dies freiwillig tun, die meisten liegen zwischen 70 und 100 Personen.
Der bislang von Christopher Kränzler geleitete Produktbereich hat etwa 140 Mitarbeitende. Dort gilt Ilhan Scheer, der operativ sehr viel präsenter sein soll als Spörri und ab Januar dessen Co-Chef werden soll, vielen bereits als „Schreckensherrscher“. Andere Insider wiederum loben, dass mit Scheer endlich ein Manager die notwendigen Veränderungen einleitet und umsetzt.
Scheer äußerte sich auf Nachfrage nicht dazu. Aleph Alpha teilt zur Vertrauensbasis in der Belegschaft nur allgemein mit, dass die Geschäftsführung in „engem und regelmäßigem Austausch mit allen Teams transparent kommuniziert“. Fragen würden in regelmäßigen Meetings offen adressiert.
Hintergrund der Maßnahmen: eine neue Strategie
An den Entscheidungen der neuen Unternehmensführung lässt sich ablesen, wie die neue Führung Aleph Alpha künftig ausrichten will: Der Fokus soll auf dem Bereich Verwaltung und Verteidigung liegen. Für diesen Bereich könnte die Firma eine Art „Edelberatung“ werden, sagt ein Insider. Aber auch eine Rückbesinnung auf die Entwicklung großer Sprachmodelle, für die es neue öffentliche Mittel gibt, steht zur Debatte. Zurückgefahren werden könnten hingegen die Geschäftsfelder Industrie, Mobilität und Finanzen mit Kunden wie Infineon und Bosch. Ein Insider sagt: „Jetzt wird massiv aufgeräumt.“ Von Aleph Alpha heißt es dazu derzeit nur so viel: „Operativ arbeiten wir unverändert mit unseren Partnern weiter und erzielen in unseren Großprojekten gute Fortschritte.“
Der Umbau fällt in eine Phase, in der ein Investor seinen Einfluss verstärkt: die Schwarz-Gruppe. CEO Reto Spörri war bis zuletzt Chef von Lidl E-Commerce und Manager bei Schwarz Digits. Mehrere Insider berichten, er sei „losgeeist“ und von Schwarz mit einem klaren Auftrag ausgestattet worden: Aleph Alpha neu auszurichten und aufzuräumen. Nach Handelsblatt-Informationen soll er von den Aleph-Alpha-Gesellschaftern eine Nebentätigkeitsgenehmigung erhalten haben, die ihn berechtigen soll, weiter eine Vergütung der Schwarz-Gruppe zu beziehen.
Zudem ist mit Rolf Schumann jüngst der Co-CEO von Schwarz Digits selbst in den Beirat von Aleph Alpha eingetreten. Schwarz Digits wollte sich zu alldem nicht äußern. Reto Spörri reagierte auf eine Handelsblatt-Anfrage nicht.
In einem nächsten Schritt könnte die Schwarz-Gruppe ihren Einfluss auf Aleph Alpha noch weiter verstärken. Laut Insidern soll der Konzern mit Co-Investor Bosch über dessen Anteile verhandeln.
Der Industriekonzern steht wirtschaftlich unter Druck und soll Schwierigkeiten haben, konkrete Anwendungen für Aleph Alphas Technologie zu finden. Ein Beispiel ist der interne Chatbot AskBosch. Ursprünglich sollte er auf Aleph-Alpha-Technologie basieren. Heute läuft er mit KI von OpenAI. Auch deshalb soll Bosch schon länger erwägen, bei Aleph Alpha auszusteigen, heißt es von mehreren mit der Sache vertrauten Personen.
Bosch wollte sich auf Handelsblatt-Anfrage „nicht zu Spekulationen äußern“, teilte aber mit: „Bosch arbeitet im Bereich KI generell mit mehreren Partnern zusammen, auch da die Leistungsfähigkeit eines Modells sehr stark von der Anwendungsdomäne abhängt.“ Um für seine Kunden die besten Lösungen zu entwickeln, setze der Konzern auf Open-Source-Modelle und auch „auf Partnerschaften mit Unternehmen wie Microsoft, Google, AWS.“
Der Industriekonzern war im Herbst 2023 zeitgleich mit Schwarz bei Aleph Alpha eingestiegen und hatte damals auch das Recht auf einen Sitz im Beirat ausgehandelt.
Interessant wäre der Deal für Schwarz möglicherweise zudem aus einem anderen Grund: Mit den Geschäftsanteilen, die in dieser sogenannten Series-B-Finanzierungsrunde ausgegeben wurden, sollen
besondere Rechte verknüpft sein. Anteilseigner, die mehr als die Hälfte der Series B preferred Shares halten, sollen laut aktuellem Vertragswerk weitreichende Entscheidungen zu Finanzierungsevents treffen können.
Schwarz könnte diese Mehrheit erlangen, wenn es die Bosch-Anteile übernehmen und sich mit Christ Capital zusammentun würde. Die Beratungs- und Investmentfirma des Unternehmers Harald Christ ist ebenfalls in der Series B bei Aleph Alpha eingestiegen und ein langjähriger Partner der Schwarz-Gruppe. Unter anderem ist sie im Lobbyregister als Interessenvertreter von Schwarz Digits eingetragen.
Schwarz Digits und Aleph Alpha teilten mit, sich nicht zu „Spekulationen“ und „Marktgerüchten“ zu äußern. Nach Handelsblatt-Informationen könnten die Verhandlungen bis Ende des Monats abgeschlossen werden.
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