90-Sekunden-Regel und „Etikettieren“: Wie du dich weniger triggern lässt
Kollegen, Partner oder sogar Fremde triggern uns emotional. Es wirkt wie ein Automatismus, gegen den kein Kraut gewachsen ist. Doch Neurowissenschaftler kennen einfache Techniken, mit denen du cool bleibst und souveräner reagieren kannst ...
Eine E-Mail, die uns verärgert, oder eine Bemerkung der Führungskraft, die in uns Sorge auslöst, manchmal ist es auch nur ein Blick – und unsere Zündschnur beginnt zu knistern. Schnell sind wir emotional getriggert, verlieren die Kontrolle und reagieren impulsiv. Oft mit ärgerlichen Folgen. Willkommen im Club! So geht es wohl den meisten von uns. Mit der 90-Sekunden-Regel und der Technik „Etikettieren“ bleiben wir auf dem Fahrersitz und reagieren souveräner. Und auch gegen das Grübeln nach den 90 Sekunden gibt’s hier Hilfe.
Werden wir von außen emotional getriggert, löst unser Gehirn eine neurochemische Reaktion aus, die zu körperlichen Reaktionen wie angespannten Muskeln, Herzrasen oder Schwitzen führt und mit Gefühlen wie etwa Verärgerung, Sorge, Wut oder Angst verbunden ist. Neurowissenschaftler wie Dr. Jill Bolte Taylor sagen, dieser Vorgang dauert rund 90 Sekunden – und ebbt dann ganz natürlich wieder ab. Es sei denn, wir nähren unsere Gefühle nach den 90 Sekunden weiter und verstärken sie zum Beispiel durch sich wiederholende negative Gedanken oder Grübeln über den ursprünglichen Auslöser unserer Reaktion.
Hierin liegt eine Chance, die im Alltag einen großen Unterschied machen kann. Um diese Chance zu nutzen, müssen wir nur 90 Sekunden verstreichen lassen, ohne zu reagieren. Anschließend können wir wieder mit klarem Kopf agieren. Dieser Unterschied heißt Souveränität. Dann sitzen wir im Fahrersitz, ohne von unseren Gefühlen kontrolliert und ferngesteuert zu werden.
Wie kann man diese 90 Sekunden aushalten, ohne zu reagieren?
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum, soll der Psychiater Victor Frankl, einer der Väter der Resilienzforschung, gesagt haben. Man könnte sagen, die 90 Sekunden sind genau dieser Raum, der uns die Freiheit der selbstbestimmten Reaktion gibt. Und die beginnt bereits damit, sich dieses Momentes bewusst zu werden. „Schauen Sie auf den Sekundenzeiger Ihrer Uhr“, rät Bolte Taylor in „Psychology Today“, „in weniger als 90 Sekunden werden Sie sich besser fühlen.“ In diesem Moment werde man zum Beobachter statt zum Betroffenen der eigenen Gefühle. Übrigens ist dies ein Prinzip, das dem von Meditation sehr ähnlich ist. Und da kaum noch jemand eine Uhr mit sich herumträgt, tut es auch der Timer vom Smartphone.
90 Sekunden können verdammt lang werden, wenn die Emotionen hochkochen. Kann man die „negativen“ Gefühle nicht einfach unterdrücken? Klar, kann man. Aber eine smarte Option ist das nicht. Unterdrückte Gefühle führen im Alltag verstärkt zu Depressionen und weniger Zufriedenheit in der Partnerschaft, zeigte zum Beispiel eine Metastudie von Linda D. Cameron, Psychologieprofessorin an der University of California. Man kann sich vorstellen, wie sehr dauerhaft unterdrückte Gefühle auch Teams in Unternehmen gefährden. Hier geht es auch nicht um die Unterdrückung von Emotionen, sondern um eine gesunde Emotionssteuerung.
Unterdrückte Gefühle führen verstärkt zu Depressionen und Beziehungsproblemen
Wie also können wir diese 90 Sekunden aushalten, ohne sofort zu reagieren? Diese Frage ist ein Klassiker in meinen Trainings für Mitarbeiter von Unternehmen. Man kann die 90 Sekunden zum „Entwaffnen“ des limbischen Systems nutzen, das unsere Reaktion auf Gefahr steuert. Dieses Entwaffnen, das man auch „Beruhigen“ nennen kann, funktioniert auf zwei Wegen: körperlich und/oder mental. „Das Gehirn steuert den Körper, aber die Kommunikation zwischen beiden fließt in beide Richtungen“, so die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius und Dr. Hans W. Hagemann in „Neuro Hacks“.
Körperlich können wir positiv eingreifen, indem wir beispielsweise unsere Atmung steuern: Dazu wechseln wir von der Brustatmung, die unter Stress meist angewandt wird, zur Bauchatmung , die das vegetative System beruhigt. Dabei atmen wir gleichmäßig ein und aus. Verlängern wir das Ausatmen, tritt eine stärkere Beruhigung ein. Verbinden wir es mit Zählen, können wir diesen Rhythmus noch besser steuern. Ein wirkungsvoller Nebeneffekt des Zählens: Man muss sich dabei konzentrieren und ist nicht mehr auf den Trigger fixiert.
Eine mentale Technik, um die 90 Sekunden ohne Reaktion zu nutzen und für Beruhigung zu sorgen, heißt: Etikettieren. Dahinter steckt das Beobachten und Benennen der eigenen wahrgenommenen Emotionen. Man gibt dem Stressor einen Namen: Angst, Sorge, Wut … oder Hans und Franz, die Namen sind am Ende egal. Entscheidend ist nur der Prozess des Benennens. Denn die Forschung zeigt: Wenn wir unsere Gefühle benennen, beruhigt dies unser Angstzentrum im Gehirn, die Amygdala. Effekt: Der rationale Bereich des Gehirnes wird wieder aktiv.
Wie gerate ich nicht ins Grübeln?
Wenn nun die 90 Sekunden glorreich ohne zu reagieren überstanden sind: Was kann ich tun, um dann nicht ins Grübeln zu kommen und die besagten Gefühle wie Wut oder Angst zu verlängern? Kurz gesagt: alles, was uns in den Moment zurückholt und so wegführt von den belastenden Gedanken über negative Entwicklungen in der Zukunft. Hier kann die Konzentration auf die Atmung wieder ins Spiel kommen oder andere sensorische Anker. Die Aufmerksamkeit kann dabei auf alles, was man gerade sieht, fühlt, hört oder schmeckt gerichtet werden. Ich hatte kürzlich hier beispielsweise die Grounding-Übung 5-4-3-2-1 vorgestellt.
Und damit es keine Missverständnisse gibt: Mit diesen Techniken ist natürlich nicht die spannende Frage geklärt, weshalb du dich gerade von den jeweiligen emotionalen Triggern herausfordern lässt. Bis du die Antwort gefunden hast, kann dir die 90-Sekunden-Regel in Verbindung mit Etikettieren, Atmung und weiteren Techniken helfen.
90 Sekunden – so schaffen wir das!
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Quellen
„Suppression and expression as distinct emotion-regulation process in daily interactions“, 2018, Linda D. Cameron, University of California
„Neuro Hacks“, 2017, Friederike Fabritius, Dr. Hans W. Hagemann
„Forbes“, 2025, Mark Travers
„Psychology Today“, 2020, Dr. Bryan E. Robinson