Abgefahren: Das Fahrrad als neues Statussymbol
Das Design bestimmt das Bewusstsein
Früher war das Auto als Statussymbol ein konkurrenzloses Objekt der Begierde. Auch der Führerschein galt als Initiationsritus vieler Generationen. Heute steht das Auto kaum mehr für Schnelligkeit und Fortschritt, sondern für Stau und Stillstand. Die Menschen in Kopenhagen und Stockholm waren in ihrem Denken schon vor Jahren viel weiter als wir in Deutschland, was Mobilität in der Stadt betrifft – hier hatten Stadtvertreter und Bewohner erkannt, dass mit der Abnahme der Autos die Lebensqualität steigt. Dazu gehört auch der Genuss, sich gut angezogen auf einem schönen Fahrrad zu bewegen – allerdings weniger auf Feldwegen, sondern zwischen Loft und Vernissage, Büro und Kino. In Kopenhagen, wo bereits ein Drittel der Bewohner zur Arbeit radelt, wurde der Blog „Cycle Chic“ erfunden: Die Dänen wollen durch gutes Aussehen zum Radfahren inspirieren.
Die Bereitschaft, viel Geld in ein Fahrrad zu investieren, das häufig den Preis eines Kleinwagens hat, ist inzwischen auch in Deutschland gestiegen. Den Trend gab es schon vor Corona – die Pandemie hat ihn lediglich verstärkt. Das Fahrrad ist zur „Ikone der Metropolenmoderne“ (Thorsten Firlus) geworden. Zu den Begriffen, die mit dem neuen Mobilitätsgefühl assoziiert werden, gehören Funktionalität, Unabhängigkeit, Dynamik und Selbstverwirklichung. Das Design des Rades soll das Bewusstsein seines Besitzers spiegeln.
Die Entwicklung zeigt sich auch in den Fahrradfachgeschäften, die heute wie ein Atelier oder ein Möbelladen erscheinen. Die Kunden informieren sich teilweise bereits online und besuchen dann Showrooms, um auch das haptische Erlebnis zu haben. Mit der Idee, Fahrräder als Lifestyle-Objekte zu präsentieren und zu verkaufen, gründete Michael Vogt 2008 gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin Tina Umbach die stilrad°° GmbH. Inzwischen ist stilrad°° mit Showrooms in Berlin, Frankfurt, München, Wien und Zürich präsent. Ihr Credo war schon damals: „Wir müssen das Rad sexy machen“ - nur dann steigen die Menschen vom Auto aufs Rad um.
Beide haben sich nie von ihrem Weg abbringen lassen, ihren Kunden ausschließlich die beste Produktauswahl „in Sachen urbaner Mobilität mit einer Premium-Dienstleistung anzubieten.“ Bei stilrad°° hängen in aufgeräumter Eleganz die Modelle wie Exponate im Museum vor weißen Wänden. Online-Verkauf und Social Media sind hier eng verbunden.
„Solange man sich im Allgemeinen hält, kann uns jeder nachmachen; aber das Besondere macht uns niemand nach. Warum? Weil es die anderen nicht erlebt haben.“ (Goethe)
So wie unsere Lebensbereiche zunehmend nach persönlichen Vorlieben gestaltet werden, erleben wir auch eine neue Blütezeit für Maßfahrräder, die das Magazin „Fahrstil“ schon vor Jahren feierte. Das Besondere ist die Bauart dieser Räder. So bestellte Wladimir Klitschko im Sommer 2013 das Individualmodell von Corratec, ein maßgefertigtes Mountainbike, dessen Karbonrahmen kaum mehr wiegt als ein Profirennrad. Entworfen und hergestellt wurde es von Mauro Sannino, der seit vielen Jahren für den Fahrradproduzenten in Raubling bei Rosenheim arbeitet. Zwischen 150 und 200 Sannino-Rad-Bestellungen nimmt Corratec jährlich entgegen. Die urbanen Individualisten werden „vermessen“, nach ihrem Fahrradverhalten befragt und erhalten zwei Monate später ihr Fahrrad, das bis zu 10.000 Euro kostet - auf Wunsch auch mit Signatur. Den Motor in Abhängigkeit der Herzfrequenz und Pedalkraft steuern: Diesen Ansatz verfolgt Corratec mit dem neuen Modell LIFE AI, das bereits als Prototyp in der Anwendung getestet werden kann.
Besonders beliebt sind auch Gravelbikes (Gravel, engl. für Schotter), die zwischen 1799 und 10.999 Euro kosten: Rennräder mit Reifen, die zwischen 32 und 47 Millimeter breit sind, und einer weniger gestreckten Sitzposition. Der Trend kommt aus den USA. Einige ähneln radmarathontauglichen Rennrädern, andere sind leicht und schnell, wieder andere sind „robuste Bikepacking-Modelle“. Auch Fixies, die nur einen Gang haben und einen schlanken Stahlrohrrahmen, werden als Urban Bikes immer beliebter. Jedes Detail ist hier eine Botschaft.
Das Fahrrad als nachhaltiges Understatement
Die Herausforderung besteht für Michael Vogt darin, „Nachhaltigkeit nicht mit Zwang und Einschränkung zu verbinden, sondern zu zeigen, dass am Ende des Tages jeder Einzelne davon profitiert. Es darf auch Spaß machen.“ Als Kooperationspartner unterstützte er auch den Club der guten Hoffnung: das "Moyo Wa Huruma Orphanage Centre" in Geita, im Nordwesten Tansanias. Neben Schutz, Geborgenheit und Lebensunterhalt ist das übergeordnete Ziel des Waisenhauses, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, damit die Kinder eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben erhalten. Durch Fahrräder soll ihnen der Besuch der weit entfernten Schule erleichtert werden. Damit kommen sie wesentlich schneller und ausgeruhter im Unterricht – und nach der Rückkehr bleibt mehr Zeit zum Lernen, für die Hilfe bei der Heimarbeit sowie zum Spielen. Die älteren Heimbewohner haben die Verantwortung für die Instandhaltung übernommen, und Workshops unter kompetenter Anleitung vermitteltn Know-how für die Reparatur von Fahrrädern sowie den Aufbau einer Werkstatt.
Damit das Projekt realisiert werden konnte, wurde vor einigen Jahren ein vergoldetes Fahrrad versteigern, das ursprünglich als Werbeträger für seine Premium-Fahrräder dienen sollte. Mit dem Erlös aus der Versteigerung wurden nicht nur die Fahrräder in Tansania finanziert, sondern auch eine sichere Unterstell- und Aufbewahrungsmöglichkeit. Rund 10.000 Euro wurden dafür insgesamt benötigt. Der Erlös ging zu 100% in das Projekt.
Wenn Status heute im privaten und beruflichen Kontext überhaupt noch eine Rolle spielt, dann im Zusammenhang mit funktionaler Zweckmäßigkeit und nachhaltiger Ausrichtung.
Deshalb entscheiden sich auch viele Menschen für Bambusfahrräder, die umweltfreundlich, aber nicht protzig sind. Die Kosten liegen zwischen 1800 und 3800 Euro. Jedes my Boo Bambusfahrrad ist ein Unikat. Der handgearbeitete Rahmen aus Bambus ist sehr leicht, robust und widerstandsfähig. Das deutsche Unternehmen my Boo GmbH fertigt mit seinem Partner Yonso Project, einem sozialen Projekt in Ghana, Fahrräder mit Rahmen aus Bambus an. In einem Bambusrahmen stecken rund 80 Stunden Handarbeit. Die Zusammenarbeit hat bereits über 35 fair bezahlte Arbeitsplätze in Ghana geschaffen. Durch die Erlöse kann in Ghana eine eigene Schule finanziert werden.
Der schnell nachwachsende Rohstoff wächst in Ghana überall und steht deshalb in großer Menge zur Verfügung.
Bambus ist so stabil wie Stahl, so leicht wie Aluminium und komfortabel wie Carbon. Der Bambus wird nach dem Schlagen über mehrere Monate aufwändig getrocknet, damit er fest und widerstandsfähig wird. Danach folgt die Auswahl. Nur die geeignetsten Stangen werden für den Bau verwendet. Die Bambusrohre werden so präpariert, dass sie perfekt in die Einspannvorrichtung passen. Mit Hilfe von Harz werden sie an den Aluminiumkomponenten fixiert. Die Verbindungsstellen werden mit in Harz getränkten Hanfseilen umwickelt. Nach dem Austrocknen sind die Verbindungen sehr stabil. Die Hanf-Verbindungsstücke tragen zur Steifigkeit bei. Zum Schluss folgt der aufwendige Abschliff per Hand, damit auch die Optik stimmt. Lackierung und Prüfung der Bambusrahmen erfolgen in Deutschland (Quelle: memolife).
Das my Boo Bambusfahrrad "my Pra EQ" ist ein Cityrad mit komfortabler Geometrie und Sitzposition (Nexus 7-Gang Nabenschaltung). Das Bambusfahrrad "my Daka" hat eine sportliche Shimano SLX 11-Gang Kettenschaltung mit MTB-Übersetzung. Das Rahmenmaterial Bambus sorgt zusätzlich für eine natürliche Dämpfung. Das "my Volta" ist das erste E-Bike aus Bambus. Es hat einen integrierten Mittelmotor, der den Fahrer kraftvoll und leise unterstützt. Selbst starke Steigungen sind so kein Hindernis mehr. Durch den tiefsitzenden Mittelmotor hat das Fahrrad einen optimalen Schwerpunkt. Mit dem leistungsstarken Akku kann eine Strecke von bis zu 120 km zurückgelegt werden. Das Bambusfahrrad ist nach allen EN-Normen geprüft - auch für Pedelecs, die den Radfahrer mit einem Elektromotor unterstützen. Mit regenerativem Strom betrieben fahren sie leise, bequem und schadstofffrei in jene Regionen, in die kein takt- und spurgeführter öffentlicher Verkehr mehr kommt. Das elektrisch betriebene Fahrzeug ordnet sich durch die systembedingt begrenzte Reichweite in das Gesamtangebot ein. Pedelecs machen etwa 95 Prozent aller verkauften Elektroräder aus.
Es sind bewegte Zeiten, die auch dazu motivieren, sich mehr mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen. Einige sind schon angekommen, andere sind noch unterwegs, viele werden mit Verzögerung folgen.
Weiterführende Informationen:
Thorsten Firius: Für die Straße oder eher fürs Wohnzimmer? In: WirtschaftsWoche 12 (17.3.2017), S. 101 f.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.