Ohmmmmmmmmmmmm – nein, mindful leadership heißt mehr und anderes | positiv-fuehren.com

Achtsamer mich selbst führen, mein Team und meine Organisation

„Unser Chef beschäftigt sich plötzlich mit Achtsamkeit!“ – „Na, ist doch besser, als wenn er nur rumsitzen und gar nichts tun würde, oder?“

Mit Stress besser klarkommen können; unter Druck und bei Unsicherheit kühlen Kopf bewahren und gute Entscheidungen treffen können; im Konflikt mit schwierigen Mitarbeitenden oder mit der Kund- oder Lieferantenschaft stimmig kommunizieren können, ohne übers Ziel hinauszuschießen und ohne den Ärger in sich hineinzufressen: Diese und ähnliche Sehnsüchte haben viele Führungskräfte, mit denen ich zu tun habe.

Um weniger im Autopilot zu funktionieren und bedachter, präsenter, bewusster handeln, entscheiden und kommunizieren zu können, kann Achtsamkeit sehr wirksam sein, dazu gibt es immer mehr wissenschaftliche Studienergebnisse. Höheres Employee Engagement, geringere Fehlzeiten, höhere Zufriedenheit mit den Führungskräften: SAP, einer der Vorreiter von organisational betriebener Achtsamkeit in Deutschland, beziffert den Wert der eigenen Mindfulness-Aktivitäten mit einem ROI (Return on Investment) von 200 Prozent.

Aber wie kann das konkret aussehen, für Dich selbst, Dein Team, Deine Organisation? Dazu hier einige Anregungen:

Mikropraktiken für die eigene Präsenz

Stundenlang auf dem Meditationskissen sitzen? Das muss nicht sein, um von den Vorteilen von Achtsamkeit zu profitieren, es gibt viele kleine, konkrete Mikropraktiken, die sich in den Arbeitsalltag einbauen lassen und die nachweislich günstige Auswirkungen auf Stress, Angst, Resilienz und Burn-out-Symptomatik zu haben scheinen (z.B. Schroeder et al 2018). Wie etwa:

Kontakt mit der Klinke

Achtsam den Türgriff zu öffnen ist eine einfache aber wirkungsvolle Achtsamkeitsübung, die du mehrmals täglich in deinen Alltag integrieren kannst. Sie nutzt das alltägliche Öffnen von Türen als „Anker“ für Achtsamkeit. Anstatt automatisch und unbewusst durch Türen zu gehen – in den Konferenzraum, ins Stationszimmer, zurück ins eigene Büro, beim Kunden oder oder oder –, kannst du diesen Moment bewusst nutzen, um dich mal kurz im gegenwärtigen Moment zu verankern.

Und so funktioniert’s:

  • Halte einen kurzen Moment inne, bevor du durch die Türe gehst.

  • Nimm einen bewussten Atemzug.

  • Spüre deine Füße auf dem Boden.

  • Konzentriere dich auf das Empfinden des Türgriffs: welche Textur und Temperatur hat das Material, wie warm, kalt, rau oder glatt fühlt es sich etwa an?

  • Nimm das Gewicht und den Widerstand wahr

  • Beobachte die Bewegung deiner Hand, deines Arms

  • Wie hört sich das genau an, wenn du die Türe öffnest?

  • Spürst du einen Luftzug, wird es wärmer oder kälter?

  • Nimm bewusst wahr, was sich auf der anderen Seite der Tür befindet. Spüre bewusst den Übergang von einem Raum zum anderen.

Du kannst die Technik auch auf andere alltägliche Handlungen ausdehnen (Lichtschalter betätigen, Wasserhahn aufdrehen etc.)


💡 Diese und andere Mikro-Aktivitäten, die wenig Zeit und Aufwand kosten und viel Nutzen bringen können, spielen eine große Rolle in meinem nächsten Online-Kurs zu Mindfulness-based strengths practice (MBSP) speziell für Führungskräfte ab Herbst. Info und Anmeldung hier.


Der physiologische Seufzer

Der physiologische Seufzer, auch „Physiological Sigh“ genannt, ist eine bewusste Atemtechnik, die du zur Entspannung und Stressbewältigung einsetzen kannst. Er besteht aus zwei kurzen, tiefen Einatmungen direkt nacheinander, gefolgt von einer langen, langsamen Ausatmung, vielleicht sogar mit einem entspannten „Aaaaaaahhhhh“. Im Gegensatz zu einem normalen Seufzer, der oft mit negativen Emotionen verbunden ist, ist der physiologische Seufzer eine bewusste Technik, die dazu dient, Körper und Nervensystem zu beruhigen. Die Übung kannst du im Sitzen wie auch im Liegen durchführen, probiere es vielleicht sogar mal im Stehen aus – im Auto kurz vor dem Aussteigen zu einem Kundentermin, im Fahrstuhl oder wo auch immer.

Christoph Müller-Höcker, der als Group Head of Mindfulness bei der Allianz sehr erfolgreiche Achtsamkeitsprogramme vorantreibt, leitet in meiner aktuellen Podcastfolge von "Positiv Führen" die Übung an – vielleicht magst du ihm dabei ja zuhören, auf dieser Website oder auf bekannten Podcast-Plattformen wie Spotify oder Apple Podcasts.

„Mindfulness isn’t difficult, we just need to remember to do it.“ Sharon Salzberg

Fokus finden im Team

Für mich sind Achtsamkeitsübungen oft so etwas wie Brille putzen: Als zumindest gelegentlicher Brillenträger weiß ich, dass ich oft ganze Tage mit staubigen, schmierigen Gläsern durch die Welt renne, bevor ich überhaupt merke, dass ein Tuch oder etwas Seife und warmes Wasser jetzt gut wären für meinen Blick auf die Dinge. Dementsprechend wird alles klarer, farbiger, sichtbarer, wenn ich mir dann wirklich mal wieder die Zeit nehme fürs Brille putzen – und so ist das im Job auch. Und so ist es auch mit dem Team: Achtsamkeit in und von Teams ist nicht einfach eine Eigenschaft oder ein Zustand, sondern sie lässt sich herstellen (Rojas et al. 2024). Und gerade die Führungskraft scheint darauf starken Einfluss zu haben (Reb et al. 2014). Daher auch hier einige Anregungen:

Gemeinsam im Meeting ankommen

Ein Online-Call jagt den anderen – das ist für viele Teammitglieder mittlerweile die Realität. Untersuchungen u.a. von Microsoft legen nahe: Wer keine Pausen zwischen den Meetings hat, erlebt mehr Stress, kann sich weniger gut fokussieren, ist weniger engagiert, hat messbar schlechtere ungünstige Profile der Gehirnaktivität. Ein Mikro-Hack kann daher das gemeinsame Ankommen sein – auch das wird von Christoph in meiner aktuellen Podcast-Folge wunderbar serviert:

  • Aufmerksamkeit auf den Atem lenken – wie sich das Einströmen der Luft anfühlt. Wie sie in Brust und Bauch ankommt. Wie sie dann wieder den Körper verlässt – und in welcher Qualität, egal ob schnell oder langsam, tief oder flach.

  • Wer mag, kann dabei die Augen schließen oder auf einen Punkt am Boden richten. Wer die Augen schließt, ist in der Regel weniger abgelenkt.

  • Eine mögliche Ergänzung: JedeR setzt sich bewusst eine Intention für das Meeting.


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Konflikte mit STOP entschärfen

Es ist ja gar nicht gesagt, dass gute Konflikte immer nur die milde ausgetragenen sind. Aber es kann helfen, wenn Dinge nicht gesagt werden, die man später bereut, wenn Perspektiven ausgetauscht werden und Optionen überlegt werden können, gerade wenn's hoch hergeht. Eine simple Formel dafür – die STOP-Technik. Sie lässt sich in Teams bei Schönwetter einüben – um sie dann in bei rauer See anzuwenden:

  • Stop: Kurz gemeinsam innehalten.

  • Take a Breath: Drei ruhige, bewusste Atemzüge nehmen, vielleicht sogar synchron.

  • Observe: Beobachtet eure Gedanken, Emotionen, physischen Reaktionen – mit Interesse und Neugier, ohne Be- oder Abwertung: Was ist gerade da? Was fehlt möglicherweise?

  • Proceed: Was soll als nächstes folgen? Was ist jetzt besonders wichtig und dringend, welcher eine Schritt sollte jetzt getan werden?

Achtsamkeit in die Organisation einflechten

Lernen, Umgang mit Veränderung, Personalentwicklung, betriebliche Gesundheitsförderung sind nur einige Ansatzpunkte, um die Routinen und Praktiken in der Organisation mit mehr Achtsamkeit anzugehen (Becke et al 2011).

In einigen Großkonzernen wie SAP, Bosch, Siemens oder eben bei der Allianz sind schon seit Jahren Achtsamkeitsprogramme auf dem Vormarsch. Wenn ich mir die unterschiedlichen Ansätze anschaue, stelle ich mal folgende Thesen und Behauptungen auf:

  • freiwillige Programme gewinnen an Wirksamkeit, wenn sie von Top-Führungskräften genutzt, promotet und gefördert werden

  • der eine ist vom gemeinsamen Meditationscall begeistert, die andere von der selbst zu nutzenden App: Unterschiedliche Lernwege und -Formate helfen, Achtsamkeit kontext- und bedarfsgerecht an die Frau und den Mann zu bringen

  • Externe TrainerInnen und Coaches können anfangs hilfreich sein, um formelle und Alltagstechniken einzuführen – aber richtig wirksam wird's, wenn in der Organisation BotschafterInnen aus- und weitergebildet werden und die Themen wirklich ins Leben bringen

  • Um den Ertrag von Achtsamkeitsinterventionen und -programmen zu messen, lassen sich die Investitionen in Trainings, Arbeitszeit der Teilnehmenden, Admin etc. gegenrechnen mit gewünschten Effekten wie gesteigertem Engagement, sinkenden Fehlzeiten, höherer Innovativität, niedrigeren Abgangsraten, einem besseren Unternehmensimage etc. Diese sind mal härter, quantitativer und mal weicher zu erfassen.

  • Je strategischer und je mehr in Übereinstimmung mit zentralen Firmenwerten Achtsamkeitsinitiativen eingeführt werden und je weniger sie vom Auf und Ab der Kassenlage abhängen, desto wirksamer sind sie.

❓Welche Erfahrungen hast du mit Achtsamkeitspraktiken in Organisationen gemacht? Was sind aus deiner Sicht die Dos and Don’ts?

PS: Du machst, Ihr macht, Sie machen das gut!

QUELLEN

Becke, G., Behrens, M., Bleses, P., Evers, J., & Hafkesbrink, J. (2011). Organisationale Achtsamkeit in betrieblichen Veränderungsprozessen–Zentrale Voraussetzung für innovationsfähige Vertrauenskulturen.

Rojas, G. R., Feitosa, J., & González-Morales, M. G. (2024). Mindfulness in Teams. In Stress and Well-Being in Teams (Vol. 22, pp. 73-97). Emerald Publishing Limited.

Reb, J., Narayanan, J., & Chaturvedi, S. (2014). Leading mindfully: Two studies on the influence of supervisor trait mindfulness on employee well-being and performance. Mindfulness, 5(1), 36-45.

Schroeder, D. A., Stephens, E., Colgan, D., Hunsinger, M., Rubin, D., & Christopher, M. S. (2018). A brief mindfulness-based intervention for primary care physicians: A pilot randomized controlled trial. American Journal of Lifestyle Medicine, 12(1), 83-91.

Christian Thiele schreibt über Positive Leadership, Positive Psychologie, Führung, Wirtschaft & Management

Christian Thiele, 48, ist Vortragsredner, Coach, Teamentwickler und Trainer für Positive Leadership. Sein Podcast „Positiv Führen“ ist auf 🎧 positiv-fuehren.com/podcast zu hören, sein Buch "Positiv Führen" ist bei Wiley erschienen. (Ski-)Bergsteiger, (meist) zuversichtlicher Patchworkvater. 

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