Seine Lese-Rechtschreib-Schwäche hat den Sinn fürs gesprochene Wort geschärft, sagt Werber Christian Rätsch - Bild: Patrick Schuch für WirtschaftsWoche
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„Als Legastheniker musste ich früh lernen, Menschen zu lesen“

Legasthenie oder ADHS sind nicht karrierefördernd. Allerdings können sich vermeintliche Schwächen auch als Stärken erweisen. Wie klappt der Aufstieg gegen viele Widerstände?

Er hatte ganz vergessen, wie schlecht seine Schulnoten waren, sagt Christian Rätsch. Doch dann, vor zwei Jahren, überreichte ihm seine Mutter zum 50. Geburtstag einen Stapel alter Unterlagen, darunter Fotos, Arztbriefe – und Zeugnisse. „Auf keinem davon stand nicht mindestens eine Fünf“, so der Marketingexperte. „Meine gesamte Schulzeit über kämpfte ich deshalb mit Versetzungssorgen.“ Trotzdem gelingt Rätsch eine erstaunliche Karriere: Noch vor dem Studium gründet er eine Unternehmensberatung, dann steigt er bei der Telekom ein und verantwortet dort schnell das Marketing für die Geschäftskunden. Seit 2013 führt Rätsch renommierte Werbeagenturen wie Saatchie & Saatchie oder Leo Burnett – und steht seit einem Jahr der BBDO-Gruppe in Deutschland vor, ist außerdem Mitglied im globalen BBDO-Board.

Doch selbstverständlich ist dieser Aufstieg nicht. Denn Rätsch ist Legastheniker. Und Rechtschreibfehler gelten bei vielen Menschen noch immer als Zeichen mangelnder Intelligenz. Gerade in jungen Jahren sei sein Aufstieg deshalb ein Kraftakt gewesen, betont er. Nicht nur Menschen mit Rechen- oder Rechtschreibschwäche, sondern auch solche mit ADHS oder Autismus haben mit Vorurteilen zu kämpfen. In Washington zum Beispiel wird derzeit debattiert, ob Gavin Newsom als möglicher Nachfolger von Joe Biden infrage kommt, sollte dieser doch noch aus dem Rennen um die US-Präsidentschaft aussteigen. Newsom ist Legastheniker und liest seine Reden deshalb ungern ab. Nun zweifeln manche an seiner Eignung als Kandidat – obwohl Newsom bereits seit fünf Jahren Gouverneur von Kalifornien ist.

Dabei ist Neurodivergenz, also eine Informationsverarbeitung im Gehirn, die von der Masse abweicht, für Unternehmen sogar von Vorteil: Unterschiedliche Denkweisen stärken Teams und lassen sie bessere Entscheidungen fällen. Seit zwei Jahren listet deshalb das Businessnetzwerk LinkedIn Dyslexie als Stärke. Weltweit führen 22.000 Menschen die Qualifikation in ihrem Profil. Initiator der Bewegung ist Virgin-Gründer Richard Branson: Er bezeichnet seine Lese-Rechtschreib-Schwäche heute als „Superkraft“. In der Schulzeit dagegen habe er sich mit seinen Schwierigkeiten meist allein gelassen gefühlt, so der Unternehmer, genauso wie in seinen ersten Berufsjahren: Kein Kollege, kein Vorgesetzter habe mit ihm über seine Legasthenie gesprochen, obwohl sie davon wussten. Wie also gelingt der Aufstieg gegen alle Widerstände?

Christian Rätsch wurde als Kind zum Intelligenztest geschickt. Sein Lernniveau sei zu schlecht, sagten die Lehrer. Die Ärzte stellten bei dem damals Neunjährigen dagegen überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten fest und attestierten ihm gleichzeitig eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Nur: Diese Diagnose interessierte an der Schule niemanden. Für Rätsch folgten Jahre voller Sorgen, Unsicherheit und Trotz: „Im Unterricht stand ich unter Strom, wenn es um schriftliche Aufgaben ging.“ Jedes seiner Halbjahreszeugnisse war eine Warnung: Die Versetzung sei gefährdet. Nicht sitzenzubleiben war Rätschs erklärtes Ziel.

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Gespür für Nuancen

Heute weiß der Top-Manager: Dieser Kampf hat in ihm Kräfte freigesetzt. „Durch meine Erlebnisse in der Kindheit fällt es mir zum Beispiel vergleichsweise leicht, Rückschläge wegzustecken, Durststrecken zu überbrücken und Ziele stringent im Blick zu behalten“, sagt er. Und wünscht die Erfahrungen, die er machte, trotzdem keinem jungen Menschen. „Es war ein unnötig harter Weg.“

In der Werbebranche erlebt er zum ersten Mal Bestätigung: Die Agenturen sehen sein kreatives und strategisches Talent, nicht seine Schulnoten. Die Ausbildung zum Werbekaufmann schließt Rätsch als Jahrgangsbester in Nordrhein-Westfalen ab – und fasst dadurch den Mut für ein BWL-Studium, das er in kürzester Zeit und mit Bestnoten durchzieht. Die Rechtschreibung kommt ihm dabei kaum noch in die Quere. Dafür sorgen die damals neu eingeführten Autokorrekturprogramme. Er trainiert außerdem noch einmal im Alleingang seine Rechtschreibung. „Ich schreibe heute fehlerfrei, wenn ich mich konzentriere“, sagt der Manager. Im Alltag nutzt er künstliche Intelligenz für Dokumente in Englisch. Besonders wichtige Texte lässt Rätsch gegenlesen.

Seine Dyslexie sieht der Marketingexperte längst nicht mehr als Defizit: Die Lese-Rechtschreib-Schwäche habe zum Beispiel seinen Sinn für die gesprochene Sprache extrem geschärft. Er gilt deshalb als geschickter Verhandler und einfühlsamer Gesprächspartner, der exakt formuliert – und so auch vielen internationalen Marketingkampagnen den passenden Slogan und eine stimmige Strategie verpasst. Schließlich habe er schon als Schüler gelernt, sehr genau zuzuhören, um dem Unterricht folgen zu können. „Heute bleibe ich deshalb auch in langen Gesprächen hoch konzentriert und erkenne zuverlässig wichtige Infos oder nonverbale Botschaften meines Gegenübers.“

Dieses Gespür nutzt Rätsch auch in zwischenmenschlichen Angelegenheiten. „Als Legastheniker musste ich früh lernen, Menschen zu lesen“, erzählt er. „Heute habe ich deshalb sehr feine Antennen für die Atmosphäre in einem Raum voller Kollegen oder Verhandlungspartner: Ist die Stimmung gut und entspannt oder angespannt und bedrückt?“ Solche Nuancen nehme er sehr bewusst wahr. Ein Talent, das er auf seine herausfordernde Schulzeit zurückführt: Für ihn war es damals entscheidend, zu wissen, welcher Lehrer auf seiner Seite war – und wer ihn schon abgeschrieben hatte.

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