„Amazon ist kein Kuschelladen“ – Wie der Großstratege und Kontrollfreak Jeff Bezos den Tech-Riesen formte
Die Unternehmerlegende übergibt den Chefposten an seinen Getreuen Andy Jassy. Der wird einiges anders machen müssen, damit Amazon erfolgreich bleibt.
Eine effektive Balance zwischen Gegensätzen hat Jeff Bezos zum größten Unternehmer unserer Zeit gemacht. Jetzt zieht er sich aus dem Tagesgeschäft bei Amazon zurück. Sein Nachfolger übernimmt ein Imperium über den Versandhandel hinaus.
Bei Amazon ging es – gerade auf dem deutschen Markt – immer weiter nach oben. Und so soll es weitergehen. Doch auf den neuen Amazon-Chef Jassy wartet vor allem die Herausforderung, den Versandhändler zu einem besseren Arbeitgeber zu machen.
Anleger zahlen für die Amazon-Aktie stets mehr als für die anderen Werte aus der Technologie-Branche. Doch der Konzern aus Seattle hat immer geliefert. Aus Hoffnungen und Spekulationen wurden reale Gewinne.
Der scheidende Amazon-Chef gilt unter Führungskräfte als Vordenker. Viele Manager haben von ihm gelernt – darunter seine 14 „Leadership-Prinzipien“, an die sich Jeff Bezos bis heute hält.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
In seinen letzten Monaten als Chief Executive Officer schlug Jeff Bezos zwei wichtige Schlachten. Eine ruhmreiche und eine kleinliche. Beide zeigen, was den Amazon-Gründer ausmacht. Die ruhmreiche ist schnell erzählt: Für knapp 8,5 Milliarden Euro kauft Amazon das legendäre Hollywood-Filmstudio MGM, Produzent unter anderem der James-Bond-Filme.
Damit sichert sich Amazon die Option, seinen Videostreamingdienst jederzeit mit MGM-Ware aufzupeppen und so der Konkurrenz von Netflix und Disney Paroli zu bieten. Ein typischer Bezos-Move: angreifen, bevor man sich verteidigen muss.
Die kleinliche Schlacht endete in den frühen Morgenstunden des 9. April. In Bessemer, Alabama, einem Vorort von Birmingham, wurden die letzten Stimmzettel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des örtlichen Amazon-Lagerhauses ausgezählt. Schließlich stand fest: Die Belegschaft hatte sich mehrheitlich dagegen entschieden, ihre Interessen künftig von der Groß- und Einzelhandelsgewerkschaft RWDSU vertreten zu lassen. Amazon bleibt in den USA gewerkschaftsfrei.
Vorangegangen war eine wochenlange Propagandakampagne. Sogar in den Toilettenkabinen habe das Amazon-Management Anti-Gewerkschafts-Pamphlete aufgehängt, berichten Mitarbeiter, genau auf Augenhöhe im Sitzen.
Mit mindestens 15 Dollar pro Stunde bezahlt Amazon seine meist ungelernten Lagerkräfte überdurchschnittlich gut. Auch die Zuschüsse zur Krankenversicherung fallen großzügiger aus als bei den meisten vergleichbaren US-Arbeitgebern.
„Amazon ist kein Kuschelladen“
Doch Amazon will sich nicht von Arbeitnehmervertretern reinreden lassen bei der lückenlosen Leistungskontrolle, für die das Unternehmen berüchtigt ist. Ähnliches Bild in Deutschland: Mit mindestens zwölf Euro pro Stunde zahlt Amazon branchentypisch, weigert sich aber, dem Einzelhandels-Tarifvertrag beizutreten, den das Unternehmen als zu starr empfindet.
„Amazon ist kein Kuschelladen“, sagt eine deutsche Managerin, die mehrere Jahre in leitender Position im Personalwesen der Amazon-Zentrale in Seattle gearbeitet hat. Bezos stehe auf dem Standpunkt: Geht es dem Unternehmen gut, geht es auch den Mitarbeitern gut. Aber, räumt die Managerin ein, das reiche nicht mehr.
Großstratege und Kontrollfreak, Management-Revolutionär und Effizienzfanatiker: Es ist diese Janusköpfigkeit, die Jeff Bezos zum größten Unternehmer unserer Zeit gemacht hat. Ein Titel, den er sich verdient hat, folgt man dem Urteil der Finanzmärkte.
Am 5. Juli wird Bezos seinen Posten als Amazon-CEO an seinen Getreuen Andy Jassy abgeben. Exakt 27 Jahre nachdem Bezos das Unternehmen in einer Garage in einem Vorort von Seattle als Online-Buchhandlung gegründet hat, will er sich nun aus dem Tagesgeschäft zurückziehen und sich auf die Rolle als Verwaltungsratsvorsitzender („Chairman“) beschränken. In diesen 27 Jahren hat Bezos ein Imperium mit fast 1,3 Millionen Mitarbeitern geschaffen, das an der Börse aktuell 1,7 Billionen US-Dollar wert ist.
Es gibt noch genau drei Firmen auf der Welt, die wertvoller sind: Apple, Microsoft und Saudi Aramco. Doch keines dieser Unternehmen wurde von den Gründern zur jetzigen Größe geführt, sondern von angestellten Managern.
Elon Musk wiederum, der mit Tesla und SpaceX gleich zwei hochinnovative Unternehmen schuf, mag vielleicht der größte Erfinder unserer Zeit sein. Aber ob er den Elektroautopionier Tesla auch finanziell zum dauerhaften Erfolg führen wird? Die Antwort auf diese Frage ist offen.
Bezos musste sich solche Zweifel an seinen kaufmännischen Fähigkeiten ebenfalls lange gefallen lassen. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase sagten viele Analysten dem damals hochverschuldeten Onlinehändler die Pleite voraus. Noch Jahre später bezweifelten sie, dass Amazon jemals Gewinne machen würde.
Heute wissen wir: Es war Bezos‘ bewusste Entscheidung, alle Erträge sofort wieder in günstigere Preise und ein besseres Angebot für die Kunden zu reinvestieren. Diese Kombination aus Langfristdenken und Kundenorientierung hat Amazon groß gemacht.
Als Amazon schließlich profitabel war, hieß es, dass der Onlinehändler bald die Grenzen des Wachstums erreicht haben werde und daher niemals seine hohe Börsenbewertung werde rechtfertigen können. Doch dann begann Bezos die Rechen- und Speicherkapazität seiner Serverfarmen an externe Kunden zu vermieten – und machte Amazon Web Services (AWS) zum Pionier des Cloud-Computing.
In seinen 27 Jahren als Amazon-CEO hat Bezos nicht nur unzählige Aktionäre reich gemacht. Er hat mit seinen unkonventionellen Managementmethoden auch eine ganze Generation von Führungskräften geprägt. Und er hat nahezu die gesamte westliche Welt daran gewöhnt, dass Produkte mit einem Klick und maximal einigen Stunden Lieferzeit zur Verfügung zu stehen haben – ob Bücher, Filme, Schuhe oder Rechenpower.
Manches ist in den 27 Jahren auch schiefgegangen. Amazons „Fire Phone“ war ein Flop. Ebenso die Ausflüge in den Zahlungsverkehr („Amazon Wallet“, „Web Pay“) oder ins Reisegeschäft („Amazon Destinations“). Aber die gescheiterten Projekte werden unter Bezos‘ rigidem Regiment systematisch genutzt, um aus ihnen zu lernen – und es beim nächsten Mal besser zu machen.
Jeff Bezos zu verstehen, mit seinen Visionen und seiner Ausdauer, aber auch mit seiner Unerbittlichkeit und seinen Schrullen, bedeutet gleichsam, die Essenz des modernen Unternehmertums zu verstehen. Und es ermöglicht einen Ausblick darauf, was aus Amazon werden kann, wenn der Gründer nicht mehr Vollzeit an Bord ist.
McKinsey muss draußen bleiben
Wenn Greg Linden an seine Tage mit Jeff Bezos zurückdenkt, fallen ihm vor allem stinkende Nike-Turnschuhe ein. Damals, noch vor der Jahrtausendwende, hatte sich der Amazon-Gründer den „Just-Do-It-Award“ ausgedacht für Mitarbeiter, die durch Eigeninitiative ein Problem lösen.
Die Trophäe: ein alter Turnschuh. „Ich erinnere mich an ihn als jemanden voller Ideen, intellektuell neugierig, äußerst ehrgeizig und als jemand, der andere ermutigt, ehrgeizig zu sein und immer mit neuen Ideen zu experimentieren“, erzählt der ehemalige Amazon-Manager Linden, der 1997 noch von Bezos persönlich eingestellt wurde, bis 2002 im Unternehmen war und seither einige alte Turnschuhe sein eigen nennt. Linden: „Jeff Bezos ist wahnsinnig smart, absurd ehrgeizig und kann keine Dummen um sich herum ertragen.“
Legendär ist Bezos‘ Abneigung gegen Powerpoint-Präsentationen, sie sind für ihn eine intellektuelle Krücke, um Probleme nicht bis zu Ende durchdenken zu müssen. Stattdessen erwartet er von seinen Mitarbeitern knappe Memos. Die werden – weitere Amazon-Marotte – vor Sitzungsbeginn von den Teilnehmern gemeinsam gelesen, damit sie auch wirklich jeder liest.
Eng verwandt mit der Powerpoint-Phobie ist Bezos‘ Abneigung gegen Unternehmensberater. Andreas Weigend, damals Forschungsleiter bei Amazon, erinnert sich an eine Begebenheit aus dem Jahr 2003: Bezos bekam während eines Meetings mit, dass ein Team von McKinsey im Amazon-Hauptquartier unterwegs sei. „Die haben zehn Minuten, um das Gebäude zu verlassen“, soll Bezos laut Weigend gesagt haben. „Dann rufe ich die Polizei.“ Die Berater gingen freiwillig – und wenige Tage folgte ihnen der Amazon-Manager, der sie angeheuert hatte, weniger freiwillig.
Ehrgeizig war Bezos von klein auf. Er kam 1964 als Kind einer 17-jährigen Schülerin in New Mexico zur Welt. Die heiratete später einen kubanisch-stämmigen Ingenieur, der Jeff im Alter von vier Jahren adoptierte. Aus Jeff Jorgensen wurde Jeff Bezos. Noch in seiner High-School-Zeit gewann Bezos verschiedene Preise für seine schulischen Leistungen, und in seiner Abschlussrede sprach der Star-Trek-Fan von seinem Traum, dass die Menschheit den Mars kolonialisieren werde.
Es folgten ein Abschluss magna cum laude an der Princeton-Universität, ein paar Jahre an der Wall Street, wo er seine Frau MacKenzie traf, von der er seit 2019 geschieden ist, und schließlich der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon.
„Es gibt keinen Zweifel daran, dass Jeff ein brillanter Geschäftsmann mit einer starken Vision ist, wo er mit dem Unternehmen hinwill“, hat Shel Kaphan, der erste Angestellte von Amazon, über Bezos gesagt. Trotzdem sei er auch ein fordernder Mikromanager gewesen, der seine Mitarbeiter vor versammelter Mannschaft niedermache.
Es sei daher kein Wunder, dass kaum noch Mitarbeiter aus den Anfangsjahren an Bord seien. Zu den Ausnahmen zählt Ralf Kleber, seit 1999 bei Amazon und seit 2002 unermüdlicher Leiter des Deutschlandgeschäfts, des wichtigsten Auslandsmarkts von Amazon.
An Bezos‘ forderndem Stil hat sich seit 1994 wenig geändert. Wobei Bezos laut der deutschen Ex-Personalmanagerin nicht zur Cholerik neigt: „Wenn er merkt, dass man seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, bricht er ein Meeting einfach ab.“ Der amerikanische Journalist Brad Stone beschreibt in seinem Buch „Amazon unaufhaltsam“, wie Bezos und seine engste Entourage das Mittelmanagement mit künstlichen Deadlines und massivem Druck regelmäßig in 80-Stunden-Wochen treiben.
Als Beispiel nennt Stone die Spracherkennung Alexa, die lange technisch und wirtschaftlich fast aussichtslos schien. „Von Science-Fiction besessen, wie er nun einmal war, zwang Bezos sein Team, größer zu denken, über die Grenzen der etablierten Technologie hinaus“, schreibt Stone. Selbst als es Amazon mit enormem Aufwand gelang, den Vorsprung zu Apples Siri aufzuholen, habe Bezos nicht lockergelassen, sondern das Team mit seinen Wünschen für Weiterentwicklungen immer weiter angetrieben.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Amazon als Onlinehändler bereits fast die ganze Welt erobert. Seine Kunden hat er mit einem eigenen Videokanal und dem extraschnellen Lieferdienst Prime immer stärker an sich gebunden. Mit Amazon Marketplace ermöglicht der Konzern unabhängigen Händlern, Onlineplattform und Logistik von Amazon gegen Provision zu nutzen, was das Warenangebot ins Unermessliche steigert. Gleichzeitig kann Amazon so beobachten, welche Produkte bei unabhängigen Händlern besonders gut laufen und sie dann im Zweifel selbst anbieten.
Doch es ist das Cloud-Geschäft, mit dem sich Amazon quasi zum zweiten Mal erfand. Dabei war Bezos‘ Ankündigung auf der MIT Emerging Technologies Conference 2006 anfangs kaum beachtet worden: Künftig könnten andere Unternehmen Zugriff zu den Servern, der Software und anderer Netzwerktechnik haben, mit der Amazon sein E-Commerce-Geschäft betrieb. Damals verstanden nur die wenigsten, wie visionär Bezos in die Zukunft blickte. Heute gilt: Ob CIA oder Siemens, fast alle nutzen das Cloud-Angebot von Amazon.
Anders als im E-Commerce-Geschäft sind die Gewinnmargen hoch. So erwirtschaftete AWS im ersten Quartal 2021 einen Umsatz von 13,5 Milliarden Dollar und einen operativen Gewinn von 4,2 Milliarden Dollar. Das ist fast genauso viel, wie Amazon im selben Zeitraum mit all seinen anderen Geschäften erzielte – die zusammen 98 Milliarden Dollar erlösten.
Die Idee zur Cloud hatte Amazon bereits Anfang der Nullerjahre. Die Amazon-Mitarbeiter Chris Pinkham und Benjamin Black legten damals in einem Memo an Bezos ihre Idee für eine „Infrastrukturdienstleistung für die Welt“ dar. Der Amazon-Chef verlangte nach mehr Informationen – und gab grünes Licht.
Heute ist AWS laut dem Informationsdienst Cabalys Marktführer mit einen Anteil von 32 Prozent, gefolgt von Microsoft Azure mit 19 Prozent und Google Cloud mit sieben Prozent. Allerdings schläft die Konkurrenz nicht. Neue Anbieter wie Alibaba und Huawei feiern vor allem in Wachstumsmärkten wie China Erfolge. Auch drängen vormals abgeschriebene Computerkonzerne wie Dell, HPE oder Lenovo auf den Markt. Statt wie zuvor ihre Hardware zu verkaufen, vermieten sie jetzt ihre Server und andere Infrastruktur als Dienstleistung.
Kann Amazon ein guter Bürger werden?
Wie wichtig AWS für Amazon ist, zeigt sich nicht nur an den Umsätzen, sondern auch an der Personalie Andy Jassy, der als ehemaliger AWS-Chef künftig den Gesamtkonzern führt. Jassy hat nun die schwierige Aufgabe, gleichzeitig in Bezos‘ Fußstapfen und aus seinem Schatten zu treten. Jassys Herausforderungen werden ganz andere sein, als Bezos sie zu managen hatte. Amazons Problem besteht nicht mehr darin, dass Analysten dem Unternehmen keine Gewinne oder Wachstumschancen zutrauen.
Im Gegenteil, Amazon ist so reich und mächtig geworden, dass die größte Herausforderung darin besteht, die „License to Operate“ zu erhalten, die gesellschaftliche Akzeptanz für das eigene Geschäftsmodell. In den USA will die Dienstleistungsgewerkschaft Teamster eine neue Offensive starten, um Amazons Lagerhäuser doch noch zu erobern.
US-Präsident Joe Biden hat Lina Khan zur Leiterin der Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde FTC gemacht, die schon vor Jahren schrieb: Jeff Bezos habe „sein Imperium mit Mitteln aufgebaut, die vor 50 Jahren illegal gewesen wären“. Nun will Khan die MGM-Übernahme genauer überprüfen lassen – und Amazon reagierte gewohnt aggressiv mit einem Befangenheitsantrag gegen Khan. Auch in Europa schauen Datenschützer und Wettbewerbshüter immer genauer auf Amazons Praktiken.
Jassy wird viel mehr Zeit als sein Vorgänger für die Pflege der Beziehungen zu Politikern, Gewerkschaften und Aufsichtsbehörden aufwenden müssen. Bezos hat bereits klargemacht, worin er Jassys Aufgabe sieht: Der Gründer will, dass sich Amazon wandelt, vom Konzern „mit dem weltweit größten Fokus auf Kunden“ hin zum „besten und sichersten Arbeitgeber der Welt“, wie Bezos in einem Brief an die Aktionäre im April erklärte.
Das wird ein weiter Weg. Laut einem undementierten Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg ist Amazon inzwischen dazu übergegangen, freiberufliche Auslieferfahrer nicht nur computergesteuert auf ihre Performance zu überprüfen – sondern angeblichen Minderleistern auch gleich automatisch zu kündigen.
Stephen Normandin zum Beispiel war vier Jahre lang mit Paketen im Kofferraum durch Phoenix gefahren als Vertragsfahrer für Amazon. Dann erhielt er eines Tages eine computergenerierte E-Mail. Die Algorithmen, die seine tägliche Arbeit begutachteten, hatten entschieden, dass er seinen Job nicht gut genug machte. Der 63-jährige Armeeveteran war von einer Maschine gefeuert worden.
Normandin war fassungslos. Er sieht sich als „Typ der alten Schule“, der „in jedem Job 110 Prozent gebe“. Normandin sagt, Amazon habe ihn für Dinge bestraft, auf die er keinen Einfluss hatte, wie zum Beispiel verschlossene Zugänge zu Apartmentanlagen. Die Kündigung habe ihn hart getroffen.
Jassy wird einiges verändern müssen, um Amazon nicht nur zu einem erfolgreichen, sondern auch zu einem freundlichen Unternehmen zu machen.
Ex-Amazon-Forschungschef Weigend hält viel von Jassys Managerqualitäten, der Mann sei jahrelang quasi Bezos‘ Schatten gewesen. Doch inzwischen habe sich „Amazons Unternehmenskultur zu einem Kult gewandelt“, so Weigend. Kein Personenkult, wie er bei Facebook um Marc Zuckerberg herrsche. Weigend: „Darüber würde sich Bezos einfach nur lustig machen.“ Aber ein Kult um die von Bezos geschaffenen Managementregeln. Von diesen Regeln müsse sich Jassy nun ein Stück weit lösen, um Amazon weiterzuentwickeln.
Bezos, davon ist Weigend überzeugt, wird seinem Nachfolger dabei nicht im Wege stehen. „Jeff ist nicht der Typ, der seinen CEO mikromanagen will. Bezos habe jetzt andere Interessen: „Er belohnt sich jetzt mit seinem Flug ins All, das war schon immer sein größter Traum, und wow, das ist ja auch wirklich ein ganz schön großes Geschenk, das er sich da macht.“
Der Gründer Jeff Bezos genießt jetzt das Leben
Am 20. Juli will Bezos gemeinsam mit seinem Bruder Mark und zwei weiteren Passagieren die sogenannte Kármán-Linie durchbrechen, nach gängiger Definition der Beginn des Weltraums. Hier, in hundert Kilometer Höhe, kann kein Flugzeug mehr fliegen. Wohl aber die Rakete von Bezos‘ Raumfahrtfirma Blue Origin. „Das wollte ich mein ganzes Leben lang machen“, begründet Bezos den Ausflug.
Die beiden anderen Passagiere neben den Bezos-Brüdern sind eine 82-jährige ehemalige US-Pilotin und ein bislang nicht bekannter Gewinner einer Auktion. Ein Ticket wurde kürzlich für 28 Millionen Dollar versteigert, der Erlös ist für einen guten Zweck.
Auch wenn der geplante Aufenthalt im schwerelosen Zustand nur drei Minuten dauert, wäre er beinah in die Geschichtsbücher eingegangen. Bis vor kurzem wäre es der erste rein touristische Weltraumflug gewesen. Doch kündigte der britische Raumfahrt-Unternehmer Richard Branson („Virgin Galactic“) jetzt an, am 11. Juli zu fliegen.
Aber es gibt Unterschiede. Bezos und seine Passagiere sind die ersten Passagiere der Blue-Origin-Rakete. Die New Shepard absolvierte bereits 15 Testflüge, aber bislang immer unbemannt. Andere Unternehmen setzen für die ersten Flüge professionelle Astronauten ein. So wird Branson erst beim dritten Flug in suborbitale Gefilde selbst mit dabei sein.
Branson begnügt sich mit dem von den USA definierten Anfang des Weltraums in 50 Meilen Höhe, also rund 80 Kilometern. Elon Musk, der dritte im Klub der weltraumverrückten Milliardäre, will mit Space X bereits im September eine Handvoll Touristen für vier Tage in die Erdumlaufbahn schicken.
Die Rakete von Blue Origin fliegt die Passagierkapsel mit dreifacher Schallgeschwindigkeit in die Höhe. Die Kapsel klinkt sich dort autonom aus und schwebt mit einem Fallschirm zurück zur Erde. Insgesamt sind für die Weltraumtouristen nur drei Tage Ausbildung vorgesehen.
Für Blue Origin geht es um viel. Obwohl Bezos die Raumfahrtfirma zwei Jahre vor Space X im Jahr 2000 gründete, hinkt sie in vielen Bereichen hinterher. Die lange versprochene Rakete New Glenn kommt nicht voran, soll jetzt erst 2022 starten. Bezos hatte 2020 anvisiert.
2014 sicherte Blue Origin zu, einen Raketenmotor für die neue Vulcan-Rakete von ULA zu bauen, einem Joint Venture von Boeing und Lockheed. Jetzt musste ULA den für Ende 2022 vorgesehenen Start verschieben – die Motoren haben noch nicht alle Tests bestanden. Space X stach Blue Origin bei einer Ausschreibung der Nasa für eine Mondfähre aus.
Die Weltraumfirma Blue Origin sei für Bezos nicht wirklich ein Geschäftsmodell, sondern ein Vehikel für dessen Träume, sagt Weigend. „Ob er damit mal Geld verdient, das ist für Bezos doch ...“ Anstatt den Satz zu beenden, macht der ehemalige Amazon-Manager eine Geste, die irgendetwas zwischen nebensächlich und komplett egal bedeutet.
Es scheint, als sähe Bezos nach 27 Jahren Aufbauarbeit bei Amazon die Zeit der Belohnungen gekommen. Mit seiner neuen Lebensgefährtin, der Fernsehmoderatorin Lauren Sanchez, pflegte Bezos bis zum Ausbruch der Coronakrise einen klassischen Jetset-Lebensstil. Das Paar wurde als Gast auf verschiedenen Megajachten im Mittelmeer gesichtet, darunter die „Rising Sun“ des US-Unternehmers David Geffen. Derzeit soll Bezos laut Bloomberg in den Niederlanden selbst eine über 100 Meter lange reine Segeljacht für sich bauen lassen, es wäre die größte der Welt.
Vorangegangen war eine Kampagne des US-Skandalblatts „National Enquirer“, das Fotos von Bezos‘ Affäre mit Lauren Sanchez veröffentlicht hatte. Kurz darauf drohte der „Enquirer“- Mutterverlag American Media, noch intimere Bezos-Bilder zu veröffentlichen, wenn die zu Bezos‘ Privatbesitz zählende Zeitung „Washington Post“ ihre Untersuchungen über American Media nicht einstellt.
Bezos reagierte darauf, indem er die erpresserische E-Mail veröffentlichte. „Wenn ich mich in meiner Position nicht gegen diese Erpressung wehren kann: Wie viele Leute können es dann?“, fragte der Amazon-Chef. Wieder so ein typischer Bezos-Move.
Bezos‘ Ex-Frau MacKenzie, mit der Jeff Bezos drei Söhne und eine adoptierte Tochter hat, erhielt im Zuge der Scheidung einen großen Teil des gemeinsamen Vermögens. Doch selbst danach ist Bezos mit fast 200 Milliarden Dollar noch immer der reichste Mann der Welt. MacKenzie ließ gleich nach der Scheidung wissen, dass sie „eine unverhältnismäßig große Menge an Geld zu teilen“ habe. Sie werde sich selbst um die Auswahl der wohltätigen Projekte kümmern, „und ich werde dabei bleiben, bis der Safe leer ist“, erklärte sie.
Was ein Schlaglicht darauf wirft, dass sich Jeff Bezos bei den Spenden fürs Gemeinwohl, die in den USA zum guten Ton für Superreiche gehören, bislang auffallend zurückhält. „Jeff spendet nicht so viel, wie ich gehofft hatte, und er hilft den Menschen nicht so viel, wie er sollte“, kritisiert Ex-Amazon-Manager Greg Linden. „Ich glaube, dass er den Bezug zu den Menschen verloren hat, wie das Reichtum manchmal macht.“
Ob Bezos als der größte Unternehmer nicht nur unserer, sondern aller Zeiten gelten kann, liegt weniger an seiner beispiellosen Leistung als Entrepreneur – die steht außer Frage –, sondern an einer Abwägung: Bedeutet „groß“ automatisch auch „großartig“? Fließt neben der unternehmerischen Leistung auch der positive Einfluss, den ein Unternehmer auf die Gesellschaft hat, in die Bilanz der Lebensleistung?
Um nicht nur als groß, sondern auch als großartig in die Wirtschaftsgeschichte einzugehen, muss Bezos noch einige Hausaufgaben erledigen. Zeit genug hat er dafür nun.
