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Andersmachen (3/2020): Purpose statt Leitbild: Wie Unternehmen sich neu erfinden

Immer mehr Studien deuten darauf hin: Unternehmen können deutliche finanzielle Vorteile erlangen, wenn sie sich mit den höheren Zielen und dem tieferen Sinn, also mit dem „Purpose“ ihrer Organisation intensiv auseinandersetzen und diesen in einer Kernmaxime zum Ausdruck bringen. Das hat mit den üblichen Leitbildern von früher nichts mehr zu tun.

Das Wertebewusstsein ist, genau wie die Wirtschaft, im Wandel. Die Menschen wollen zunehmend wissen, welches Unternehmen hinter einem Angebot steckt, was es antreibt, wie es mit seinen Kunden und Mitarbeitern umgeht und welche ethische Haltung es glaubhaft vertritt. Sie verlangen nach einer Vereinbarkeit von Profitstreben und Nachhaltigkeit. „Wer Profit im 21. Jahrhundert machen will, muss durch das Nadelöhr des guten Profils“, sagt der Medienphilosoph Norbert Bolz. Anbieter, die dem Wohl des Planeten dienen und das Dasein der Menschen verbessern, unterstützt man gern.

Solche Unternehmen können sowohl eine zahlungsbereite Klientel als auch Top-Talente leicht gewinnen und halten. Sie werden von der Gesellschaft geschätzt und erlangen den Zuspruch der Medien. Sie sind in der Lage, eine Gefolgschaft von Anhängern um sich zu scharen, die zu Evangelisten der Unternehmenssache werden. Zudem zeigte der Global Leadership Forecast 2018 von Ernst & Young, dass „Purposeful Organisations“ um 42 Prozent bessere Finanzergebnisse als der Durchschnitt aufweisen können.

„Wichtig wird in Zukunft, welche ideellen Werte ein Unternehmen oder eine Volkswirtschaft vertreten und inwieweit sie zur Lebensqualität der Menschen und zur Unversehrtheit der Umwelt beitragen“, sagt Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts. Bereits 1994 hat der britische Autor und Unternehmer John Elkington hierfür den Begriff der „Triple Bottom Line“ geprägt, wonach ein Unternehmen neben der ökonomischen auch eine ökologische und eine soziale Bilanz vorlegen muss.

Die Hauptaufgabe der Unternehmen von morgen

Die Hauptaufgabe eines Unternehmens der Zukunft ist also die, einen Beitrag zur Lebensqualität respektive zum beruflichen oder geschäftlichen Erfolg seiner Kunden zu leisten. Zunehmend gilt es zudem, plausibel zu machen, wie es zu einer besseren Welt beitragen will. Unternehmertum muss deshalb heute mit folgenden Fragen beginnen:

  • Welche Auswirkungen hat unser Wirtschaften auf Gesellschaft und Umwelt?

  • Welchen Beitrag leisten unsere Lösungen für eine lebenswerte Zukunft?

  • Wie schaffen wir einen Heimathafen für unsere Mitarbeiter?

  • Wie schaffen wir einen Sehnsuchtsort für unsere Kunden?

Dabei geht es um Nutzwert, um Habenwollen, um Mitmachenwollen und um Sinn – eingebettet in eine sich zunehmend technologisierende Welt. Dieser Nutzwert, der Daseinssinn, der Wesenskern, das Warum eines Unternehmens heißt im Englischen „Purpose“. Er bestimmt die Identität eines Unternehmens und sichert dessen Zukunft. “Start with Why” nennt der britisch-US-amerikanische Autor Simon Sinek dieses Konzept, seinen Golden Circle. Man definiert zuerst das “Warum” seiner Aktivitäten, also die große Idee, bevor man das “Wie” und dann das “Was” anspricht.

Die alten Leitbilder: selbstverliebt und egozentriert

Wer zukunftsfit werden will, muss mit dem Sinn und Zweck seines Unternehmens beginnen. Das hat mit den Leitbildern von früher, die oft auch als Vision oder Mission Statement bezeichnet werden, nur noch wenig zu tun. Der Zweck eines Unternehmens ist nämlich nach außen, klassische Leitbilder hingegen sind nach innen gerichtet.

Klassische Leitbilder klingen oft ähnlich, meist banal, fast immer austauschbar und irgendwie hohl, geradewegs so, als hätte man einen Leitbild-Generator benutzt. Sie zelebrieren keinen einzigartigen Nutzen für die Kunden, den Markt und die Welt, sondern den Traum von eigener Größe und Herrlichkeit. Und so hört sich das an: „Wir verstehen uns als Marktführer mit 1a-Produkten.“ Oder so: „Wir sind global führend mit unseren Marken.“ Oder so: „Wir sind der Technologievorreiter unserer Branche.“

Übliche Leitbilder und die damit verbundenen Aussagen sind nicht nur egozentriert, das ganz besondere eines Unternehmens kommt gar nicht durch. Vielmehr rieselt es Plattitüden („Wir sind kundenorientiert.“), Selbstverständlichkeiten („Wir sind zuverlässig.“) und Phrasen („Wir beziehen unsere Stärke aus unseren Mitarbeitern.“). Das berührt nicht. Es inspiriert nicht. Und verinnerlicht wird es schon gar nicht.

Fragt man Mitarbeiter nach dem Leitbild ihrer Firma, erntet man leere Blicke. Mit etwas Glück kann man hören: „Erinnere mich dunkel, haben wir irgendwann mal gemacht, steht glaube ich auf der Website.“ Was aber dort oder in aufgehübschten Unternehmensimagebroschüren steht, ist nichts als Kommunikationsprosa für die Öffentlichkeit, an die intern sowieso niemand glaubt.

Zudem agieren gerade die Oberen allzu oft nicht nach Leitbild und Werten, die sie im wahrsten Sinne des Wortes „verabschiedet“ haben. Bei solchem Mangel an Integrität ist das Aufhängen von Werteplakaten reiner Zynismus. „Lügenbaum“ nennt man in einer ziemlich bekannten Firma aus dem Düsseldorfer Raum die Säule, an der Fotos von Führungskräften hängen, die Leitbildsprüche von sich geben. Ist darüber hinaus das Kernziel an Vorherrschaft und Profitmaximierung gekoppelt, kann das in die zweifelhaftesten Richtungen führen.

Der Unterschied zwischen Leitbild und Purpose

Der Purpose als Philosophie hinter dem Geschäftsmodell und Leitmaxime für alles Handeln drückt insbesondere aus, weshalb das Unternehmen existiert und was es in die Welt bringen will. Wer das Gefühl hat, an einer großen Sache mitzuwirken, legt sich ganz anders ins Zeug als jemand, der sich als Erfüllungsgehilfe für die Ego-Ziele anderer sieht. Wird also ein attraktiver Corporate Purpose entwickelt, entsteht hohe Anziehungskraft wie von selbst. Nach den talentiertesten Mitarbeitern, den interessantesten Partnern, den flüssigsten Investoren und den hochwertigsten Kunden braucht man dann nicht mehr mühsam zu suchen, die finden einen.

Zum Beispiel sieht sich Google nicht selbstfokussiert als größter globaler Suchmaschinenbetreiber, sondern „organisiert die Informationen der Welt.“ Amazon will nicht das Kaufportal Nummer eins sein, sondern „die höchste Kundenzufriedenheit der Welt“ erreichen. Tesla „treibt den Übergang zu nachhaltiger Energie voran.“ TED versteht sich nicht als namhafter Konferenzanbieter, sondern will „wertvolle Ideen weiterverbreiten“. Und der Onlinehändler Zappos propagiert: „Deliver happiness and not just shoes.“

An solchen Formulierungen erkennt man genau: Es geht nicht darum, wer ein Anbieter ist und was er macht, sondern um den Impact, den er in die Welt bringen will. All diese Statements sind zudem „groß“ und „breit“ gedacht. Sie schaffen Raum für Ausdehnung und (globales) Wachstum. Besteht nämlich der Purpose darin, ein drängendes Problem der Menschen zu lösen und damit die Welt an einer kleinen Stelle zu heilen, dann kann etwas wirklich Grandioses gelingen. Wo die größten Probleme sind, sind auch die größten Märkte. Guter Profit ist dann das Ergebnis.

Wie man sich einer Purpose-Definition nähert

Mit folgenden Fragen können Sie sich Ihrer eigenen Purpose-Definition nähern:

  • Was ist oder war am Anfang die Existenzberechtigung unserer Firma?

  • Was können wir besonders gut und tun wir leidenschaftlich gern?

  • Für welche Überzeugungen stehen wir ein?

  • Welche Probleme dieser Welt lösen wir?

  • Welche Werte schaffen wir für unsere Kunden?

  • Mit welchem Leitthema können wir Top-Talente für uns gewinnen?

  • Was gibt uns Entwicklungsspielraum in zukünftige Richtungen?

Steht der Purpose fest, kann er für alle unternehmerischen Entscheidungen als Filter dienen. Er zeigt dem Management und allen Beteiligten,

  • welche Rahmenbedingungen adäquat sind – und welche nicht,

  • welche Art Vorgehen zu initiieren ist – und welches nicht,

  • welchen Typ Mitarbeiter man haben will – und welchen nicht,

  • welche Partner eine Bereicherung sind – und welche nicht,

  • für welche Kunden man tätig sein will – und für welche nicht.

Vor allem dort, wo die Selbstorganisation Einzug hält, ist ein glasklares Statement zu Sinn und Zweck überaus wichtig. Ist das Warum einer Organisation im Kern definiert, gibt dies wie ein Leitstern die nötige Orientierung. So kann jeder Entscheidungen treffen, die für die unternehmerische Sache die richtigen sind. Das bedeutet natürlich auch, dass jeder Mitarbeiter den Purpose seines Unternehmens kennt und beim Namen nennen kann.

Wenn ich rumreise und Vorträge halte, bin ich stets überrascht, wie selten die Mitarbeiter überhaupt wissen, warum ihre Firma wirklich existiert. Praktisch jedes erfolgreiche Unternehmen hat am Anfang seiner Geschichte einen Purpose, einen Daseinssinn, eine Berufung gehabt. „Es kann doch nicht sein, dass …?“ und „Wäre es nicht viel besser, wenn … ?“, mit solchen Startfragen ging es meist los. Von Ehrgeiz und Enthusiasmus beflügelt vollführte die Startcrew die anstehenden Aufgaben mit Hingabe, Tatkraft und wilder Entschlossenheit.

Doch mit zunehmender Größe verwandeln sich die Unternehmen. Sie lösen sich von ihrem eigentlichen Beweggrund und werden zu einer Ego-Firma, die vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Die Lebendigkeit stirbt. Herz und Seele gehen verloren. Die Kunden werden zu einem Vorgang. Aus inspirierten Mitarbeitern werden mechanische Abarbeiter. Es kann also durchaus sehr lohnend sein, sich mit seinem Purpose neu zu befassen.

Einige Beispiele von vielen

Was demnach zu ergründen ist: Das tiefere Anliegen, die höhere Bedeutung und die ganz besondere Rolle, die eine Lösung im Leben der Menschen spielen kann. Etwa so: Niemand interessiert sich für die Zusammensetzung eines Parfums, aber wir wollen alle gut riechen. Oder so: Der Kunde will keinen Staubsauger kaufen, er will eine saubere Wohnung. Staubsauber sind kopierbar, und wenn alles gleich ist, entscheidet nur noch der Preis. Über die Reinigungswirkung hingegen eröffnet sich eine vielfältige Welt, die zu einem neuen Daseinssinn werden kann.

Berater Christian Kalkbrenner erzählt: Ein Skihersteller hat analysiert, dass die Drehfreudigkeit seiner Skier nicht nur mehr Fahrspaß bringt, sondern auch der Ermüdung vorbeugt und damit die Verletzungsgefahr reduziert. Daraus leitete er den Purpose ab, ab jetzt nur noch verletzungsminimierende Sportartikel zu machen.

Ein Softwarehaus hatte sich als technologisch führender Lösungsanbieter gesehen, sich auch so im Markt verhalten und entsprechend die Produktentwicklung gesteuert. Die Vermarktung war durch Preiskämpfe und ein ständiges Ringen um neue Funktionen mit dem Wettbewerb geprägt. Doch jede neue Funktion hat die Konkurrenz nach kurzer Zeit kopiert, jede Zertifizierung übertrumpft. Die Kunden konnten den neuen Versionen und Funktionen kaum mehr folgen. Großteils hatten sie auch gar keinen Bedarf dafür.

Durch die Purpose-Profilierung und die damit verbundene intensive Beschäftigung mit den Kunden hat sich dann ein ganz anderes Bild ergeben. Der Anbieter hat erkannt, dass seine Kunden auf eine ganz andere Art Unterstützung benötigen: Die Implementierung einer Lösung zusammen mit den entsprechenden Prozessen rund um den Einsatz der Software war für sie viel entscheidender als alle sechs Monate eine neue Funktion.

Dies hat das Markenselbstverständnis völlig verändert. Der Anbieter hat einen 180-Grad-Schwenk hingelegt. Früher hieß es: „Wie bieten die beste Technik und sind Vorreiter in unserem Marktsegment.“ Nun: „Wir helfen unseren Kunden, ein erfolgreiches Geschäftsmodell zu betreiben, indem wir die passenden Lösungen aufbauen und in Einklang mit den Kunden optimieren.“

Mehr zum Thema in: Die Orbit-Organisation. In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft (Finalist beim International Book Award 2019)

Und für die, die sich echt an die Arbeit machen wollen: Die nächste Ausbildung zum zertifizierten Orbit-Organisationsentwickler findet vom 17. - 19. Feb. 2022 in München statt. Zu weiteren Infos und zur Anmeldung geht's hier.

Über die Autorin: Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Veranstaltungen und Fachkongressen. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Zudem wurde sie mit dem BestBusinessBook Award 2019 ausgezeichnet. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager sowie zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus. Weitere Infos: www.anneschueller.de

Anne M. Schüller schreibt über Touchpoint Management, Unternehmensführung, Kundenorientierung

Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu ihrem Kundenkreis zählt die Elite der Wirtschaft.

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